Die Auswahl. Cassia und Ky
wie die Suche nach etwas Bestimmtem.
Es dauert lange, alle Namen der Reihe nach aufzurufen, aber endlich komme ich zu T. Wider Erwarten finde ich ein Gedicht von Tennyson und würde es gerne lesen, habe aber keine Zeit mehr. Ich tippe seinen Namen an: Eines seiner Gedichte,
Der Mond
, ist erhalten geblieben. Ich frage mich, ob er noch mehr geschrieben hat. Wenn ja, ist es verloren.
Warum nur hat Großvater mir diese Gedichte gegeben? Wollte er, dass ich eine Bedeutung in ihnen entdecke? Wollte er nicht, dass ich
gelassen gehe
? Aber was heißt das überhaupt? Soll ich mich gegen die Gesellschaft auflehnen? Dann hätte er gleich verlangen können, dass ich Selbstmord begehe. Denn dem käme es gleich. Ich würde wahrscheinlich nicht wirklich sterben, aber wenn ich gegen die Vorschriften verstieße, würde man mir alles nehmen, was mir etwas bedeutet. Meine Familie. Meinen Partner. Meine gute Arbeitsstelle. Mir würde nichts bleiben. Ich glaube nicht, dass Großvater das gewollt hätte.
Ich komme einfach nicht dahinter. Ich grüble darüber nach, drehe und wende die Worte in meinem Kopf. Ich wünschte, ich könnte sie noch einmal auf Papier geschrieben sehen und es dann enträtseln. Aus irgendeinem Grund glaube ich, dass alles anders wäre, wenn ich die Worte in
echt
und nicht nur vor meinem inneren Auge sehen könnte.
Doch eines ist mir klargeworden: Obwohl ich das Richtige getan habe – die Worte verbrannt und versucht habe, sie zu vergessen –, funktioniert es nicht. Diese Worte werden nicht einfach verschwinden.
Als ich Em in der Mensa sitzen sehe, fühle ich mich sofort ein wenig erleichtert. Sie strahlt förmlich, und als sie mich entdeckt, winkt sie mir zu. Also ist beim Bankett alles gutgegangen. Sie hat keinen Panikanfall erlitten. Sie hat es geschafft. Sie ist nicht tot.
Ich eile durch die Reihen und setze mich auf den Stuhl neben ihr. »Und?«, frage ich, obwohl ich die Antwort bereits kenne. »Wie war das Bankett?« Ihre Freude wirkt ansteckend. Alle an unserem Tisch freuen sich mit ihr.
»Es war
perfekt
.«
»Also ist es nicht Lon?«, witzele ich schwach. Lon ist schon vor ein paar Monaten gepaart worden.
Em lacht. »Nein. Sein Name ist Dalen. Aus der Provinz Acadia.« Acadia gehört zu den stark bewaldeten Provinzen im Osten, weit entfernt von den geschwungenen Hügeln und den Flusstälern hier bei uns in Oria. Dafür gibt es in Acadia richtige Berge und das Meer – beides Landschaftsformen, die wir hier nicht haben.
»Und?«
Wir alle am Tisch beugen uns neugierig nach vorn, um jede Einzelheit über den Jungen, den Em heiraten wird, zu erfahren.
»Als er aufgestanden ist, dachte ich erst: ›Das kann doch nicht mein Partner sein.‹ Er ist groß, und er hat mich über die Leinwand so nett angelächelt. Er hat kein bisschen nervös gewirkt.«
»Und, sieht er gut aus?«
»Natürlich«, erwidert Em lächelnd. »Und er schien auch nicht zu sehr enttäuscht von mir zu sein, zum Glück.«
»Warum sollte er?« Em sieht schon in ihrer braunen Zivilkleidung hinreißend aus. Gestern Abend in ihrem gelben Kleid muss sie unwiderstehlich gewesen sein. »So, er sieht also gut aus. Beschreib ihn doch mal ein bisschen genauer.« Ich schäme mich dafür, dass in meiner Stimme unüberhörbar ein Stich Neid mitschwingt. Als ich gepaart wurde, haben sich meine Freunde nicht um mich geschart, um herauszufinden, wie mein Partner ist. Es gab kein Geheimnis, denn alle kannten Xander schon.
Em ist so lieb und ignoriert meinen Ausrutscher einfach. »Ehrlich gesagt, ein bisschen wie Xander …«, beginnt sie, unterbricht sich aber mitten im Satz.
Ich folge ihrem Blick und entdecke Xander, der betreten ein paar Schritte von uns entfernt steht, ein Tablett mit seinem Alubehälter in der Hand. Hat er den Neid aus meiner Stimme herausgehört, als Em ihren Partner beschrieben hat?
Was stimmt nicht mit mir?
Ich versuche, darüber hinwegzugehen. »Wir haben uns gerade über Ems Partner unterhalten. Er sieht aus wie du.«
Xander erholt sich schnell. »Dann muss er
unglaublich
attraktiv sein.« Er setzt sich neben mich, sieht mich aber nicht an. Ich schäme mich. Er muss mich gehört haben.
»Natürlich!«, lacht Em. »Warum bin ich bloß so nervös gewesen?« Sie errötet ein wenig, wahrscheinlich bei dem Gedanken an den Abend in der Konzerthalle, und blickt Xander an. »Alles hat wunderbar geklappt – genau, wie du gesagt hast.«
»Trotzdem wünschte ich, du hättest gleich anschließend sein Foto ausdrucken
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