Die Auswahl. Cassia und Ky
widersetzen sich meinen Versuchen, sie um die Gabel zu wickeln. Nach vielen vergeblichen Drehungen gebe ich auf und stecke sie so in den Mund. Die Enden hängen heraus, und ich muss sie einschlürfen.
Wie peinlich! Unerklärlicherweise steigen mir die Tränen in die Augen. Ich lege die Gabel hin, und Xander greift über den Tisch, um sie geradezurichten. Dabei schaut er mir genau in die Augen, und ich kann die Frage in ihnen lesen, als hätte er sie laut ausgesprochen:
Was ist los?
Ich schüttele leicht den Kopf und lächle.
Nichts.
Ich werfe einen Blick zu unserem Funktionär hinüber. Er ist gerade abgelenkt, weil er irgendeine Nachricht über Kopfhörer empfängt. Natürlich. Schließlich ist er im Dienst.
»Xander, warum hast du … du weißt schon … mich gestern Abend nicht geküsst?«, frage ich unvermittelt, weil der Funktionär gerade nicht zuhört. Eigentlich müsste mir das peinlich sein, ist es aber nicht. Ich will es wissen.
»Weil wir zu viele Zuschauer hatten«, antwortet Xander überrascht. »Ich weiß zwar, dass die Funktionäre ein Auge zudrücken, weil wir gepaart sind, aber trotzdem.« Mit einer leichten Kopfbewegung deutet er auf den Funktionär neben uns. »Es ist nicht dasselbe, wenn man dabei beobachtet wird.«
»Woher wusstest du das?«
»Hast du denn die vielen Funktionäre nicht bemerkt, die sich in letzter Zeit in unserer Straße herumtreiben?«
»Beobachten sie unser Haus?«
Xander zieht die Augenbrauen hoch. »Warum sollten sie euer Haus beobachten?«
Weil ich etwas lese, was ich nicht lesen sollte, und etwas lerne, das ich nicht können sollte, und weil ich möglicherweise dabei bin, mich in einen anderen zu verlieben.
Doch stattdessen sage ich: »Mein Vater …«, und breche den Satz ab.
Xander errötet. »Natürlich. Ich hätte dran denken sollen … Aber ich glaube nicht, dass das der Grund ist. Es sind Einsatzfunktionäre, Polizeikräfte. In letzter Zeit haben sie die Patrouillen erheblich verstärkt, und zwar nicht nur in unserer Siedlung.«
In unserer Straße muss es an jenem Abend vor Funktionären gewimmelt haben, und ich habe es nicht einmal bemerkt. Ky muss es gewusst haben. Vielleicht wollte er deshalb nicht mit auf die Veranda kommen. Vielleicht berührt er mich deswegen niemals. Er hat Angst, dass wir erwischt werden könnten.
Vielleicht gibt es sogar eine noch einfachere Erklärung. Vielleicht
will
er mich auch gar nicht berühren. Vielleicht sieht er nur eine Freundin in mir. Eine Freundin, die nun doch mehr über ihn erfahren will, sonst nichts.
Anfangs war das ja auch so. Ich wollte mehr über diesen Jungen wissen, der in unserer Siedlung lebte, aber nie wirklich etwas von sich preisgab. Ich wollte erfahren, was vor seiner Ankunft mit ihm passiert war. Und ich wollte mehr über den Fehler bei meiner Paarung wissen. Inzwischen habe ich aber das Gefühl, dass ich vor allem etwas über mich lerne, wenn ich etwas über ihn in Erfahrung bringe. Ich habe nicht damit gerechnet, dass ich seine Worte lieben würde. Ich habe nicht damit gerechnet, mich selbst in ihnen wiederzufinden.
Ist es dasselbe, sich in die Geschichte einer Person zu verlieben wie in den Menschen selbst?
KAPITEL 18
W ieder steht ein Aircar in unserer Straße, diesmal vor Ems Haus. »Was ist denn da los?«, frage ich Xander, dessen Augen sich vor Angst weiten. Unser Begleitfunktionär wirkt interessiert, aber nicht überrascht. Ich muss mich beherrschen, um ihn nicht an seinem Hemd zu packen und es zu zerknittern. Ich muss mich beherrschen, um nicht zu zischen: ›Warum beobachten Sie uns? Was wissen Sie über uns?‹
Ems Haustür geht auf, und drei Funktionäre treten heraus. Unser Funktionär wendet sich an Xander und mich und sagt fast abrupt: »Ich hoffe, Sie hatten einen angenehmen Abend. Ich werde dem Paarungskomitee gleich morgen früh Bericht erstatten.«
»Danke«, sage ich automatisch, als er sich zurück zur Airtrain-Haltestelle aufmacht. Keine Ahnung, warum. Ich empfinde keine Dankbarkeit.
Die Funktionäre, die aus Ems Haus gekommen sind, durchqueren den Vorgarten und gehen zum nächsten Haus. Sie tragen einen Behälter mit dem Emblem der Gesellschaft und lächeln nicht. Wenn ich ihren Gesichtsausdruck beschreiben müsste, würde ich »traurig« sagen. Das gefällt mir nicht. »Sollen wir gucken, wie es Em geht?«, frage ich, und im selben Moment öffnet sie die Haustür und schaut heraus. Sie sieht Xander und mich und rennt durch den Vorgarten auf uns zu.
»Ich bin
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