Die Auswahl. Cassia und Ky
in die Realität. Dabei blicke ich unwillkürlich den Funktionär an, aber er sagt nichts.
Auch im Inneren des Speisesaals sieht es freundlicher aus als in einer normalen Mensa. »Schau mal«, sagt Xander. Flackernde Lichter in der Mitte jeden Tisches simulieren eine alte, romantische Beleuchtung – Kerzen.
Die Leute sehen uns an, als wir zwischen den Tischen hindurchgehen. Wir sind eindeutig die jüngsten Gäste hier. Die meisten sind im Alter unserer Eltern, aber es sind auch einige jüngere Paare dabei. Sie wirken nur um wenige Jahre älter als Xander und ich – wahrscheinlich sind sie frisch verheiratet. Ich sehe auch einige, die Singles auf Freizeitdates zu sein scheinen, aber nur wenige. In den nahe gelegenen Siedlungen leben hauptsächlich Familien: Eltern, verheiratete Paare und Kinder und Jugendliche unter einundzwanzig.
Xander bemerkt, dass man uns anstarrt, und erwidert die Blicke, den Arm um mich gelegt. Leise flüstert er mir zu: »Wenigstens haben sich in der Schule allmählich alle an unsere Paarung gewöhnt. Ich hasse es, so angeglotzt zu werden.«
»Ich auch.«
Zum Glück gafft der Funktionär nicht. Er führt uns zwischen den Reihen hindurch und findet schließlich weiter hinten den für uns reservierten Tisch mit unseren Namen. Der Kellner bringt uns das Essen praktisch sofort, nachdem wir uns hingesetzt haben.
Das künstliche Kerzenlicht flackert quer über den runden schwarzen Metalltisch vor mir. Es gibt keine Tischdecken, und das Essen ist dasselbe wie immer – uns wird hier genau die gleiche Mahlzeit serviert, wie wir sie auch zu Hause erhalten hätten. Deswegen muss man vorher reservieren: damit das Ernährungspersonal das Essen an die richtige Stelle liefern kann. Die Mahlzeit hier ist also keineswegs vergleichbar mit unserem Paarungsbankett, aber es ist der zweitschönste Ort, an dem ich je gegessen habe.
»Das Essen ist gut und schön heiß«, bemerkt Xander, als Dampf aus seinem Alubehälter entweicht. Er zieht die Abdeckfolie herunter und sieht nach. »Guck dir nur meine Portion an. Die wollen wohl, dass ich Muskelmasse aufbaue, deswegen geben sie mir jedes Mal mehr.«
Ich betrachte Xanders Portion Nudeln mit Soße. Sie ist wirklich riesig! »Kannst du das alles aufessen?«
»Machst du Witze? Natürlich kann ich das!«, entgegnet Xander gespielt entrüstet.
Ich ziehe die Folie ab und betrachte meine Portion an. Neben Xanders wirkt sie winzig. Vielleicht bilde ich es mir nur ein,
aber meine Portionen scheinen in letzter Zeit immer kleiner zu werden. Ich frage mich, warum. Das Wandern und das Training
auf dem Laufband halten mich in Form. Eigentlich sollte ich mehr zu essen bekommen statt weniger.
Sicher bilde ich es mir nur ein.
Der Funktionär, der jetzt noch uninteressierter wirkt als vorher, dreht die Nudeln aus seinem Behälter auf eine Gabel und sieht sich im Raum nach anderen Aufsichtsbegleitern um. Er isst genau dasselbe wie wir. Ich schätze, die Gerüchte darüber, dass manche Funktionäre bessere Nahrung erhalten als alle anderen, sind frei erfunden. Jedenfalls tun sie es nicht in der Öffentlichkeit.
»Und, wie gefällt dir das Wandern so?«, fragt mich Xander und schiebt sich eine Gabel voll Nudeln in den Mund.
»Es macht mir großen Spaß«, antworte ich ehrlich.
Außer heute.
»Mehr noch als Schwimmen?«, neckt mich Xander. »Nicht, dass du das oft gemacht hättest. Die meiste Zeit hast du am Rand gesessen.«
»Natürlich bin ich auch geschwommen«, gehe ich auf seine Neckerei ein. »Manchmal jedenfalls. Aber es stimmt, Wandern mag ich lieber als Schwimmen.«
»Kann ich mir nicht vorstellen«, entgegnet Xander. »Schwimmen macht am meisten Spaß. Ich habe gehört, dass ihr immer wieder denselben Hügel rauf- und runterklettert.«
»Und ihr schwimmt immer im selben Becken hin und her.«
»Das ist etwas anderes. Wasser ist immer in Bewegung. Es ist nie gleich.«
Xanders Kommentar erinnert mich an das, was Ky in der Konzerthalle über die Musik gesagt hat. »Da hast du wahrscheinlich recht. Aber auch der Hügel ist niemals derselbe. Der Wind bewegt die Zweige und Blätter, und die Pflanzen wachsen und verändern sich …« Ich schweige. Unser feingebügelter Funktionär dreht den Kopf und lauscht unserer Unterhaltung. Dafür ist er ja auch da.
Ich schiebe mein Essen im Alubehälter herum, und die Bewegung erinnert mich an die Schreibübungen mit Ky. Eine der Nudeln sieht aus wie ein C.
Schluss!
Ich muss aufhören, an Ky zu denken.
Einige Nudeln
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