Die Auswahl. Cassia und Ky
und an die Funktionäre des anderen Arboretums schicken.«
»Worum geht es in dem Bericht?«
»Das ist leider vertraulich«, erwidert meine Mutter bedauernd.
Wir schweigen beide, aber es ist ein einvernehmliches Schweigen zwischen Mutter und Tochter. Sie ist mit den Gedanken woanders, vielleicht im Arboretum. Vielleicht entwirft sie im Kopf schon den Bericht. Aber das macht mir nichts aus. Ich entspanne mich und lasse meine Gedanken ebenfalls schweifen, nämlich zu Ky.
»Denkst du an Xander?«, fragt meine Mutter mit einem wissenden Lächeln. »Ich musste damals die ganze Zeit an deinen Vater denken.«
Ich erwidere ihr Lächeln. Es wäre sinnlos, ihr anzuvertrauen, dass ich von dem falschen Jungen träume. Nein, nicht dem
falschen
. Ky mag eine Aberration sein, aber es ist nichts Fehlerhaftes an ihm. Unsere Regierung, ihr Klassifikationssystem und überhaupt alle ihre Systeme sind falsch. Einschließlich des Paarungssystems.
Aber wenn das System falsch, verlogen und unrealistisch ist, was bedeutet das für die Liebe meiner Eltern? Wenn ihre Liebe durch die Gesellschaft entstanden ist, kann sie dann trotzdem wahrhaftig, tief und
aufrichtig
sein? Diese Frage geht mir einfach nicht aus dem Kopf. Ich wünschte, die Antwort wäre
ja
. Ich wünschte, ihre Liebe wäre echt. Ich möchte, dass sie von sich aus schön und wahrhaftig ist, unabhängig von allen anderen Faktoren.
»Ich muss mich jetzt fertig machen, wir wollen uns im Spielcenter treffen«, sage ich zu meiner Mutter, die gerade ein Gähnen unterdrückt. »Und du solltest schlafen gehen. Wir können uns morgen weiter unterhalten.«
»Ja, vielleicht ruhe ich mich ein bisschen aus«, sagt sie. Wir stehen beide auf: Ich bringe unser Alugeschirr zum Recyclingbehälter, und sie trägt meine Flasche für mich zum Sterilisator. »Sagst du mir noch auf Wiedersehen, bevor du gehst?«
»Natürlich.«
Meine Mutter geht ins Elternschlafzimmer, ich in mein Zimmer. Mir bleiben noch ein paar Minuten, bevor ich mich mit den anderen treffe. Habe ich Zeit, ein bisschen mehr von Kys Geschichte zu lesen? Ja, beschließe ich, die habe ich. Ich ziehe die zerknüllte Serviette aus meiner Tasche.
Ich möchte noch mehr über Ky erfahren, bevor ich ihn heute Abend sehe. Ich habe das Gefühl, als würden wir uns nur beim Wandern zwischen den Bäumen auf den Hügeln unser wahres Gesicht zeigen. Wenn wir an den Samstagabenden mit allen anderen zusammen sind, wird es dagegen schwierig. Als kämpften wir uns durch ein unwegsames Dickicht, in dem es keine Steinhaufen gibt, die uns leiten, außer denen, die wir selbst bauen.
Als ich mich zum Lesen aufs Bett setze, fällt mein Blick wieder auf die Stelle in meinem Schrank, an der ich meine Puderdose aufbewahrt habe. Ich fühle einen schmerzlichen Stich des Verlusts und wende mich Kys Geschichte zu. Doch während ich lese und mir Tränen über die Wangen laufen, wird mir klar, dass ich bisher keine Ahnung hatte, was Verlust wirklich bedeutet.
In die Mitte der Serviette hat Ky ein Dorf gezeichnet, kleine Häuser, kleine Leute. Aber alle Leute liegen flach hingestreckt da. Keiner steht aufrecht, außer den beiden Kys. Die Hände des jüngeren sind nicht länger leer, sie halten etwas. Eine Hand hält das Wort Mutter . Es fließt über seine Handfläche, und seine Form erinnert fast ein wenig an einen menschlichen Körper. Die Spitzen der
t
s ragen darüber hinaus wie zur Seite geworfene Arme.
Die andere Hand hält das Wort Vater , schlaff und reglos. Die Schultern des jungen Ky sind gebeugt unter der Last dieser beiden kleinen Worte. Sein Gesicht ist noch immer zum Himmel erhoben, doch dort hat sich der Regen in etwas Dunkles, Tödliches verwandelt. Ein Kugelhagel, vermute ich. Ich habe das in der Vorführung gesehen.
Der ältere Ky hat sich vom Dorf und von dem anderen Jungen abgewandt. Seine Hände sind nicht länger geöffnet, sondern zu Fäusten geballt. Hinter seinem Rücken wird er von Funktionären in Uniform beobachtet. Seine Lippen sind zu einem freudlosen Lächeln verzogen. Er trägt Zivil. Eine Linie, die eine scharfe Bügelfalte andeutet, zeigt, dass er sie penibel geglättet hat.
als ich früher den Regen fallen sah,
vom Himmel so weit und so hoch,
da dachte ich, dass er nach Salbei roch,
meinem Lieblingsduft fern und nah,
ich erklomm das Plateau, um ihn kommen zu sehen,
die Geschenke, die diesmal er brachte,
doch nicht blau war der Regen, nicht sachte,
schwarz war er
und brachte
das Nichts
Im Spielcenter sind
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