Die Auswahl. Cassia und Ky
behalten.
»Sie ist früh von der Arbeit gekommen«, erkläre ich, und das ist nicht mal gelogen.
Em verabschiedet sich und geht nach Hause. Als ich ihr nachblicke, merke ich, dass der Ahornbaum in ihrem Garten so aussieht, als würde es ihm nicht gutgehen. Selbst jetzt, mitten im Sommer, hängen nur ungefähr zehn blassgrüne Blättchen daran. Dann blicke ich hinüber zu unserem Haus, wo der Ahorn dicht und buschig wächst und die Blumen im Beet bunt blühen. Von dort aus kommt meine Mutter auf mich zu.
Die Situation erinnert mich an früher, als ich noch klein war und in die Grundschule ging. Meine Mutter brauchte damals noch nicht so viele Stunden zu arbeiten und war immer schon vor mir zu Hause. Sie und Bram kamen mir manchmal entgegen, um mich von der Airtrain-Haltestelle abzuholen. Aber sie kamen nie sehr weit, weil Bram ständig stehen blieb und unterwegs alles genau betrachtete. »So eine Detailversessenheit könnte schon ein Anzeichen dafür sein, dass er zum Sortierer bestimmt ist«, pflegte mein Vater zu sagen, bis Bram älter wurde und sich herausstellte, dass er seine Fähigkeit, auf Einzelheiten zu achten, mit seinen Milchzähnen verloren hatte.
Als ich meine Mutter erreiche, umarmt sie mich spontan mitten auf dem Bürgersteig. »Oh, Cassia«, sagt sie. Sie ist blass und wirkt abgespannt. »Es tut mir so leid. Ich habe dein erstes offizielles Rendezvous mit Xander verpasst.«
»Gestern Abend hast du auch etwas verpasst«, sage ich mit dem Gesicht an ihrer Schulter. Sie ist größer als ich, und ich glaube nicht, dass ich sie noch einhole. Ich bin eher zart und klein und schlage damit nach der Familie meines Vaters. Wie Großvater zum Beispiel. Ich rieche den vertrauten Duft meiner Mutter nach Blumen und frisch gewaschener Wäsche und atme ihn tief ein. Ich bin so froh, dass sie wieder da ist!
»Ich weiß.« Meine Mutter sagt nie etwas gegen die Regierung. Am kühnsten habe ich sie bisher gesehen, als die Funktionäre meinen Vater durchsuchten. Ich rechne nicht damit, dass sie sich aufregt und über die Ungerechtigkeit der Funktionäre schimpft, die uns die Artefakte weggenommen haben, und das tut sie auch nicht. Mir wird klar, dass sie damit auch auf ihren eigenen Ehemann schimpfen würde, schließlich ist er auch ein Funktionär.
Obwohl er nicht derjenige war, der die Hand aufgehalten und uns aufgefordert hat, unsere wertvollen Besitztümer hineinzulegen, hat er es dennoch bei anderen Leuten getan.
Als mein Vater gestern Abend nach Hause kam, nahm er Bram und mich lange in den Arm. Anschließend ging er ins Schlafzimmer, ohne ein Wort zu sagen. Vielleicht konnte er es nicht aushalten, den Kummer in unseren Gesichtern zu sehen und daran zu denken, dass er anderen denselben Kummer bereitet hat.
»Es tut mir leid, Cassia«, sagt meine Mutter auf dem Weg nach Hause. »Ich weiß, wie viel dir deine Puderdose bedeutet hat.«
»Mir tut Bram so leid.«
»Ich weiß. Mir tut er auch leid.«
Als wir zur Tür hineingehen, höre ich den Gong, der die Ankunft unseres Essens ankündigt. Aber als ich die Küche betrete, finde ich nur zwei Portionen im Lieferschacht. »Was ist mit Papa und Bram?«
»Papa hat ein frühes Abendessen beantragt, damit er in Brams Freizeitstunden mit ihm spazieren gehen konnte.«
»Wirklich?«, frage ich. Wir stellen solche Anträge nicht oft.
»Ja. Dein Vater war der Meinung, dass Bram etwas Besonderes verdient hat, nach allem, was in letzter Zeit passiert ist.«
Ich freue mich, besonders für Bram, dass die Nahrungsfunktionäre Papas Antrag stattgegeben haben. »Warum bist du nicht mitgegangen?«
»Weil ich dich sehen wollte.« Sie lächelt mir zu und blickt sich dann in der Küche um. »Wir haben schon lange nicht mehr gemeinsam gegessen. Und natürlich möchte ich alles über deinen Abend mit Xander erfahren.«
Wir sitzen uns am Tisch gegenüber, und wieder fällt mir auf, wie müde sie aussieht. »Erzähl mir erst von deiner Reise«, bitte ich sie, bevor sie mich über den gestrigen Abend ausfragen kann. »Was hast du erlebt?«
»Ich bin mir immer noch nicht ganz sicher«, antwortet sie leise, fast so, als führe sie ein Selbstgespräch. Dann strafft sie den Rücken. »Wir sind zu einem anderen Arboretum gefahren, um uns dort die Felder anzusehen. Danach haben wir einige größere Anbauflächen inspiziert. Das hat ziemlich viel Zeit gekostet.«
»Aber jetzt ist doch wieder alles in Ordnung, oder?«
»Größtenteils. Ich muss noch einen offiziellen Bericht schreiben
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