Die Auswanderinnen (German Edition)
sich vor, wie sie mit ihrem Kind, kurz vor der Einschulung, nach Deutschland zurückgehen würde, um ihm die bestmöglichen Ausbildungschancen zu ermöglichen. Das war ein Grund, den jeder verstehen würde. Das Schulsystem in Australien war einfach nicht gut genug.
Eva sah sich selbst, wie sie, mit der Kleinen an der Hand, denn es war eine Tochter, die sie geboren hatte, mit hübschen dunklen Locken und einem niedlichen Gesicht, am Flughafen in München-Riem ankommen und begeistert empfangen werden würde. Alle würden es richtig finden, dass sie sich gegen Uwe durchgesetzt hatte, der in Australien hatte bleiben wollen, obwohl es nicht gut für seine Tochter war. Was aber wäre, wenn Uwe, entgegen ihren Erwartungen, sich dafür entscheiden würde mit ihnen zurückzugehen? Unmöglich! Sein Lebensinhalt war nicht seine Familie, sondern sein Beruf. Er steckte all seine Energie in die Schreinerei, brachte vollen Einsatz, um sich dort hochzudienen, und würde die Früchte seiner Bemühungen deshalb auch um jeden Preis ernten wollen.
Die Kleine hatte eine rosa Kapuzenjacke an, und ein dunkelblaues Röckchen. Ihre Eltern würden so froh sein, das Enkelchen endlich in ihre Arme nehmen zu können, und niemand würde sie, die verlassene, aber willensstarke Mutter, als Versagerin betrachten. Genau so würde es kommen.
Kapitel 44
New South Wales, heute
Am nächsten Tag saßen sie im Freien, direkt am Meer und löffelten riesige Eisbecher. Sie waren guter Dinge, und selbst Jo Ann zeigte sich gesprächiger als in den Tagen zuvor. Ben fehle ihr, sagte sie, und Tiger natürlich auch. Sie hätte in dieser Nacht von den Hunden geträumt. Einen schönen Traum, in dem sie mit ihnen gespielt habe. Die Tiere hatten auf einer großen Wiese herumgetollt, sie war hinter ihnen her gerannt, und dann waren sie gemeinsam im Gras gelegen. Stellt euch vor, sagte sie, es war eine Wiese mit gelben Butterblumen und weißen Gänseblümchen.
„Ganz wie zu Hause“, stellte Isabella fest, und rührte in der milchigen, sämigen Flüssigkeit, die von den geschmolzenen Eiskugeln im Becher übrig geblieben war.
„Ja, solche Wiesen gibt es hier nirgendwo“, bestätigte Jo Ann. „Ich habe seit ewigen Zeiten nicht mehr an so eine Wiese gedacht.“
Eva schwieg und beobachtete die Wolken. Es würde bestimmt bald regnen.
Isabella fiel ihr eigener Traum wieder ein. „Du hattest Glück. Ich habe auch geträumt, aber es war alles ziemlich wirres, scheußliches Zeug. Vielleicht befinden wir uns ja auf einem dieser alten Aboriginal-Traumpfade, von denen man immer liest.“
„Ich habe überhaupt nicht geträumt“, meinte Eva daraufhin, aber Isabellas Worte hatten ihr Interesse geweckt. „Wovon hat denn dein Traum gehandelt, Isabella?“
„Es war der gleiche Albtraum, den ich seit meiner Rückkehr nach Deutschland in unregelmäßigen Abständen immer mal wieder habe. Allerdings hatte ich ihn so lange nicht mehr, dass ich schon dachte, dass er nicht mehr wiederkommen würde. War wohl ein Irrtum, leider!“
„Worum geht es in diesem Traum?“
„Na, wenn unsere Vereinbarung, über unsere gemeinsame Vergangenheit nicht mehr zu sprechen, noch gilt, dann muss ich jetzt passen. Wie sieht’s aus, Jo Ann?“
„Abgelehnt!“
Worauf sich Eva sofort beschwerte. „Das kannst du nicht machen! Jo Ann, komm schon, es ist doch nur ein Traum.“
„Also gut“, meinte Jo Ann kopfschüttelnd, aber mit einem Lächeln. Das Lächeln verging ihr jedoch bereits bei Isabellas ersten Worten.
„Er beginnt stets mit dem Streit, den ich am letzten Tag, als wir das zweite Mal alle zusammen in Lightning Ridge waren, mit Dieter hatte. Also am letzten Tag unseres letzten gemeinsamen Urlaubs.“ Sie fuhr fort den Traum zu beschreiben, in dem sie sich wieder mühselig zur Mine durchschlug und dabei alles genauso intensiv erlebte, als ob sie wach wäre. Wie der Traum sie in eine enge dunkle Röhre quetscht, die aus Engelsflügeln besteht. Schwarzen Flügeln mit bleiernen Federn, die sie umschließen und gefangen halten. Wie sie mehrmals erfolglos versucht, den Traum zu verändern, um dem Grauen zu entgehen. „Als würde ich in Schlamm waten“, versuchte Isabella zu erklären, „dabei aber nicht vorwärtskomme, weil mich das Monster, dieser teuflische Engel, zwischen seinen Schwingen gefangen hält.“ Und sie beschrieb die Enge, die in dem Rohr aus schwarzen Federwänden herrschte. Die drückende Atmosphäre, den abscheulichen Gestank und ihre erbärmliche
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