Die Auswanderinnen (German Edition)
besser.
Tiger schlug an, und nun konnte auch Jo Ann das schwache Klingeln des Telefons hören. Das wird Mira sein, dachte sie, und stieß energisch die Schaufel in den Boden. Mira würde heute noch abfahren, das war so sicher wie das Ende des Regens, der sich nun für den Rest des Jahres rarmachen würde. Jo Ann hatte als Abschiedsgeschenk für Mira ein Foto von ihnen beiden vergrößern und rahmen lassen. Es lag allerdings noch unverpackt auf dem Küchentisch. Also nahm sie Tiger hastig am Halsband und spurtete mit ihm ins Haus, um den Anruf nicht zu verpassen. Vielleicht konnte sie Mira ja dazu überreden, erst morgen zu fahren. Sie ließ das Halsband des Hundes erst los, nachdem sie die Tür geschlossen hatte, und griff dann zum Hörer. Doch am anderen Ende war nicht Mira, sondern John, der ihr eine so schockierende, eine so ungeheuerliche Nachricht übermittelte, dass sie nichts anderes tun konnte als mit einem unterdrückten Stöhnen schweigend zuzuhören und dann nach einer Ewigkeit, wie ihr schien, einen Dank zu murmeln und die Verbindung zu unterbrechen. Dank wofür? Sie spürte noch wie ihr schwindlig wurde, dann schwebte sie plötzlich, und ihr Körper war so leicht, und weich, dass sie nicht mehr spürte, wie sie auf dem Boden aufschlug.
Kurt war plötzlich da. Er stand über sie gebeugt, mit geballten Fäusten, wie ein Boxer. Holte mit der rechten Faust aus und schlug zu. Sie riss abwehrend die Arme nach oben, um ihr Gesicht zu schützen, aber seine Faust traf ihren Unterarm. Von der Wucht des Schlages wurde sie auf den Rücken geworfen, während er sie mit dem nächsten am Kopf erwischte. Blut spritzte auf ihre weiße Bluse und sie dachte sich noch, oh Gott, die Flecken gehen nie mehr raus, ehe sie das Bewusstsein verlor.
Minuten mussten vergangen sein. Der Telefonhörer baumelte neben Jo Anns Kopf, und wie aus weiter Ferne hörte sie das Besetztzeichen an ihr Ohr dringen. Es wurde immer lauter während sie langsam wieder zu sich kam. Ächzend stand sie auf, um sich das Blut von der Stirn zu wischen. Aber da war kein Blut, und auch ihr Arm schmerzte nicht. Und vor allen Dingen, wie sie bestürzt und gleichzeitig erleichtert feststellte, gab es auch keinen Kurt. John musste sie mit seiner Nachricht so erschreckt haben, dass sie wohl ohnmächtig geworden war. Geistesabwesend hängte sie den Telefonhörer ein. Aber die Erinnerung an Kurts Brutalität, an seine gemeine Attacke auf der Queen Frederika , die sie gerade zum zweiten Mal durchlebt hatte, ließ sich nicht so schnell verdrängen, und eine unerklärliche Angst bemächtigte sich ihrer. Jo Ann atmete tief durch, bis sie sich wieder etwas beruhigt hatte, dann holte sie sich ein Glas Wasser und trank es in einem Zug aus.
Als das Telefon wieder zu läuten begann, zuckte sie zusammen und starrte es an, als wäre es ein gefährliches Tier, doch dann hob sie schließlich mit zitternder Hand ab. Dieses Mal war es tatsächlich Mira, die darauf bestand, in einer Stunde vorbeizukommen und sich ihr Geschenk abzuholen. Jo Ann gab sich geschlagen, obwohl sie sich beim besten Willen nicht vorstellen konnte, innerhalb kürzester Zeit mit Mira einen harmlosen Plausch halten zu können. Reiß dich zusammen, sagte sie unerbittlich zu sich selbst, du brauchst jetzt einen klaren Kopf. Du wirst das Geschenk verpacken, eine Flasche Weißwein kaltstellen und dich anständig von Mira verabschieden. Du wirst ihr gegenübertreten, ohne dass sie auch nur im Geringsten merkt, wie du dich fühlst. Du hast noch eine ganze Stunde Zeit, dich zu sammeln.
Aber die Nachricht, die sie soeben erhalten hatte, war nicht so einfach zu bewältigen. Sie wusste, dass sie in einem nicht enden wollenden Albtraum landen würde, wenn sie sich nicht endlich den Tatsachen stellte. Jo Ann presste eine Faust an ihre Brust, um ihren noch immer beschleunigten Herzschlag zu beruhigen. Dann entschied sie sich mit klopfendem Herzen und flachen Atemstößen zu handeln und wählte Evas Nummer.
Kapitel 12
Queen Frederika, vor Australien, damals
Die Frischwassertanks waren fast leer gewesen, als sie Freemantle, den Hafen von Perth, erreicht hatten. Der dortige Aufenthalt war nur kurz gewesen, denn der griechische Kapitän wollte die Verspätung, die durch ein paar Schlechtwettertage auf hoher See entstanden war, wieder aufholen. Aber die übereilte Weiterreise sollte schlimme Folgen für die Passagiere haben, die dem Ende der Fahrt entgegenfieberten. Bis Perth war die Stimmung an Bord noch
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