Die Auswanderinnen (German Edition)
wurde weiter unten sichtbar enger. Tiger umrundete das Loch aufgeregt, winselte in hellen Pfeiftönen, schlug aber nicht an. Sie sah sich um. Wo genau befand sie sich? Wie weit war sie von ihrem eigenen Claim entfernt?
Soweit sie blicken konnte, war der Boden von niedrigen Sträucher bedeckt. Die dürren Bäume, die vereinzelt zwischen ihnen aufragten, waren gleichmäßig verteilt und daher als Markierungspunkte ungeeignet. Außerdem hatte sie sich damals in jener Nacht keinen einzigen Orientierungspunkt gemerkt. Zu zweit hatten sie Kurt über die Grenze ihres Claims geschleppt, weit weg von ihrem Bohrloch, tief in das verlassene Land hinein. Wie tief? Wie weit? Sie wusste es einfach nicht mehr. Sein Körper war so schwer und sperrig gewesen, konnte es wirklich sein, dass sie ihn bis hierher geschleppt hatten?
Mit erstaunlicher Gelassenheit beobachtete sie den Hund. Tiger umrundete das Erdloch, bellte begeistert und blickte immer wieder zu ihr auf. Dann war er plötzlich still, senkte den Kopf tief in die Öffnung, legte sich dabei fast auf den Boden und begann mit den Vorderpfoten zu scharren. Nun schlug ihr Herz doch schneller, obwohl dies beileibe kein Beweis war, dass Kurt dort gelegen hatte. „Guter Hund“, lobte sie ihn trotzdem. „Komm, wir gehen zurück. Genug.“
Jo Ann bahnte sich ihren Weg, so gut es ging, quer durch das Gestrüpp und das fremde Land zurück und versuchte dabei so wenig Spuren wie möglich zu hinterlassen.
Schon fast an der Grenze zu ihrem Claim angelangt, bückte sie sich, um einem tief hängenden Ast auszuweichen und gleichzeitig ein paar vertrocknete Äste aus dem Weg zu schieben. Dabei sah sie aus den Augenwinkeln heraus etwas zwischen den Blättern aufblinken. Es war ein Stück matt glänzendes Metall, das zur Hälfte im Boden steckte und eindeutig nicht dort hingehörte. Vorsichtig begann sie es mit den Fingern freizulegen und zog es dann behutsam aus der Erde. Die dünne Metallplatte war ein Medaillon an einer Kette. Erdklumpen hatten die Öse des Anhängers verstopft, und die Kette selbst war angerostet, aber das Medaillon war unversehrt. Auf seiner einen Seite war das Relief eines Mannes zu erkennen, der ein Kind auf seinen Schultern trug, während auf der anderen Seite eine Gravur angebracht war, deren Worte Jo Ann aufgrund der Erdablagerungen aber nicht lesen konnte. Sie wischte das Medaillon einigermaßen sauber und steckte es ein.
Von hier aus waren es nur noch wenige Schritte bis zur Claimgrenze, und Tiger, der ihre Unruhe spürte, rannte bereits vor ihr her zum Auto zurück. Sie atmete erleichtert auf. Niemand hatte ihr Kommen und Gehen bemerkt, und so sollte es auch bleiben.
Kapitel 21
Auf der Rückfahrt hielt sie an Johns Kneipe an. John stand, wie immer um diese Uhrzeit, bereits hinter dem Tresen und bereitete sich auf einen neuen Arbeitstag vor. Er polierte die Gläser mit flinken, geübten Bewegungen und summte dabei leise mit der Musik mit. Es war inzwischen elf Uhr, das Pub war bereits geöffnet, aber noch ohne Kundschaft. Jo Ann nahm den Hintereingang und überraschte John mit ihrem plötzlichen Auftauchen. Leise trat sie von hinten an ihn heran und tippte ihm auf die Schulter.
John wirbelte erschrocken herum und ging automatisch in eine Abwehrposition, bis er sie erkannte. Schlagartig änderten sich seine Körperhaltung und sein Gesichtsausdruck.
„Himmel, Jo Ann, tu das nie wieder“, meinte er vorwurfsvoll, wobei er allerdings lächelte und seine blauen Augen schelmisch blitzten. Schnell stellte er mit seiner linken Hand das neben ihm stehende Radio leiser, während er mit der rechten ihre Taille umfing und sie umarmte, wie er es immer tat, wenn sich Gelegenheit dazu bot. Dann gab er ihr einen freundschaftlichen Begrüßungskuss auf die Wange, wie er in seinem Bekanntenkreis üblich war. Flüchtig und harmlos, damit sie nicht merkte, wie sehr er sich jedes Mal zurückhalten musste, um sie nicht wie ein Ertrinkender an sich zu drücken und festzuhalten. Wann immer er sie auch traf, verströmte sie diesen betörenden Duft, der wie ein Opiat auf ihn wirkte. Unwillkürlich kamen ihm frische Limonen in den Sinn und er musste an seine unbeschwerte Kindheit auf einer Farm an der Gold Coast denken, wenn seine Mutter die reifen Früchte ausgepresst und ihm die köstliche Limonade vorgesetzt hatte. Erinnerungen an endlose warme Tage am Meer kamen in ihm hoch. Wie sich der heiße Sand unter seinen nackten Füßen angefühlt und die salzige Luft in seiner
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