Die Auswanderinnen (German Edition)
Betrieb genommen worden. Sie versuchte, sich zu erinnern, was ihr John während seines letzten Telefonats berichtet hatte und lief zur östlichen Ecke ihres Claims. Auf dem dort angrenzenden Claim, der schon vor ewigen Zeiten verlassen worden war, weil er nicht einmal ein paar winzige Nobbys hergegeben hatte, musste sich der eingefallene Schacht befinden, aus dem das Skelett herausgespült worden war.
Aber außer ein paar schmutzigen, braunen Hügeln zwischen Gras, Steinen und dichtem Gestrüpp, sah sie nichts Auffälliges. Jo Ann ging zum Auto zurück, öffnete die Tür und bedeutete Tiger mit einem Nicken, herauszuspringen. Erneut sah sie sich um, obgleich sie wusste, dass kein Mensch in der Nähe war, beugte sich dann über den Beifahrersitz und öffnete das Handschuhfach. Vorsichtig nahm sie einen Plastikbeutel heraus, aus dem sie mit den Fingerspitzen ein altes rissiges Stück Leder zog, das sie eigens für diesen Zweck von zu Hause mitgenommen hatte, und hielt es Tiger dicht vor die Schnauze. Jo Ann wusste nicht mehr, warum sie Kurts Taschenmesser samt Hülle all die Jahre über aufgehoben hatte. Vielleicht hatte sie auch einfach nur vergessen, es zu entsorgen, nachdem alles andere, seine Kleidung, seine Bücher, die Zigarrenkiste, die Haarbürste und sogar das Notizbuch mit den Aufzeichnungen über seine Schürfarbeiten ihrem geradezu manischen Zwang, alles, was mit ihm zu tun gehabt hatte, zu vernichten, zum Opfer gefallen waren. Allein das Messer in seinem Lederetui hatte seitdem unberührt in ihrer Nachtischschublade gelegen.
Jetzt war sie froh darum. Der Hund schnupperte an dem alten Leder, rieb mit seiner feuchten Schnauze daran, und hob dann heftig schnaufend den Kopf. Er versuchte Witterung aufzunehmen, es konnte losgehen.
Jo Ann folgte ihm, zögerte allerdings kurz, ehe sie die Grenze ihres Claims überschritt. Der Grundsatz, sich niemals ohne ausdrückliche Erlaubnis des Eigners auf fremdes Terrain zu begeben, war so tief in ihr verankert, dass sie sich wie ein Dieb vorkam. Der Claim ist verlassen, beruhigte sie sich, es interessiert niemanden, wenn du ihn betrittst.
Doch der alte Claim war riesig, er umfasste mindestens zweihundert einzelne Claims, die jeweils fünfzig auf fünfzig Meter groß waren, und wies dadurch viele versteckte Stolleneingänge auf. Das Land, das sie nun mit Tiger durchstreifte, sah allerdings auf den ersten Blick wertlos und verlassen aus. Die ehemals weiß-rot gestreiften Stangen, die einst als Begrenzungspfosten gedient hatten, waren völlig verblichen. Das Gestrüpp war stellenweise unpassierbar und wehrte sich mit seinen ineinandergewachsenen dürren Ästen und scharfen Dornen gegen Jo Anns Vordringen. Tiger umrundete die unpassierbaren Stellen, immer mit der Nase im Wind und übersprang niedrigere Büsche. Nachdem er das Gebiet aber immer noch im Zick-Zack-Kurs durchquerte, wusste Jo Ann, dass er noch keine Fährte gefunden hatte. Schlagartig wurde ihr klar, dass es absoluter Unsinn war, was sie da versuchte. Der Hund würde den Fundort des Skeletts niemals ausmachen können, auch nicht mit dem Geruch von Kurts Lederetui in der Nase. Nach all den Jahren mussten die Organismen und Zersetzungsmechanismen der Erde Kurts verwesenden Körper schon längst aufgelöst, neutralisiert und sich einverleibt haben. Zu Staub gemacht haben! Erde zu Erde, wie es in der Bibel hieß. Um gerade noch einmal seine Knochen übrig zu lassen und sie dann zusammen mit dem Grund- und Regenwasser wieder auszuspucken.
Wie hatte sie nur glauben können, dass Tiger sie zur Fundstelle des Skeletts führen würde! Nein, sie musste schon selbst danach suchen und sich noch einmal neu orientieren. Als sie daher beim südlichen Grenzpfosten angelangt war, bog sie auf einen von hier aus westlich verlaufenden Pfad ein, der gleichzeitig die Grenze zum benachbarten Grundstück darstellte und daher von dessen Besitzer gründlich von allem Gestrüpp befreit worden war. Sie kamen flott voran. Tiger lief voraus, suchte und schnupperte, und wartete auf sie, wenn der Abstand zu groß wurde. Schon zwanzig Minuten später wurden sie fündig. Links von ihr, ziemlich tief im Busch verborgen, entdeckte Jo Ann eine offensichtlich frisch gesteckte Fahne, die schlaff an einer Stange herunterhing. Die Stange war mit gelbem Klebeband markiert. Dort waren die Knochen also gefunden worden! Jo Ann beschleunigte ihren Schritt.
Das Loch im Boden neben der Fahne war fast kreisrund, maß an die zwei Meter im Durchmesser und
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