Die Auswanderinnen (German Edition)
zurückgehalten hatte und die nun mit Macht aus ihr herausdrängten. Stück für Stück brach ihre Beherrschung zusammen, und damit auch der mühselig errichtete Damm, mit dem sie sich seit jener längst vergangenen Schreckensnacht geschützt hatte. Resigniert schluchzte sie auf und ließ ihren Tränen freien Lauf, bis sie langsam wieder versiegten. Schließlich suchte sie im Handschuhfach nach einem Taschentuch und wischte sich über die nassen Augen. Danach fuhr sie mit Tiger, der neben ihr auf dem Beifahrersitz lag und leise winselte, noch immer bebend vor Zorn und Angst nach Haus. Sobald sie das Hoftor hinter sich geschlossen und sich im Wohnzimmer auf das niedrige Sofa geworfen hatte, begann sie jedoch von neuem zu weinen.
Noch nie hatte sie sich so gehen lassen, und noch nie hatte sie sich so verlassen und so einsam gefühlt. Warum hatte sie sich John nicht offenbaren können? Wie gerne hätte sie ihn in die fürchterlichen Ereignisse ihrer Vergangenheit eingeweiht und sein Verständnis für die komplizierte Situation, in der sie sich nun befand, gewonnen. Aber wahrscheinlich hätte sie damit auch sein Mitleid erregt, und das wollte sie unter keinen Umständen. Denn sobald er genügend Zeit haben würde, um darüber nachzudenken, wie schwach und hilflos sie damals gewesen war, würden seine Gefühle für sie in Verachtung umschlagen. Da blieb sie schon lieber weiterhin die starke, unnahbare Jo Ann für ihn, die ihr Leben im Griff hatte und keinen Partner brauchte.
Es war richtig gewesen, dass sie ihn vorhin angeschrien hatte, denn nur das hatte sie daran gehindert, sich ihm in ihrer tiefen Verzweiflung an den Hals zu werfen und damit das Image der selbstständigen Frau, das sie so mühevoll aufgebaut hatte, für immer zu ruinieren.
Langsam fühlte sie sich wieder etwas besser. Tiger, der sie weiterhin mit einem gewissen Sicherheitsabstand von seinem Platz an der Tür beobachtet hatte, erhob sich und näherte sich ihr mit verstörtem Blick.
„Na, komm schon her“, sagte Jo Ann und schniefte ein letztes Mal. „Du armer Kerl, so kennst du mich ja gar nicht.“ Der Hund legte sich zu ihren Füßen, den Kopf abgewandt, aber die Ohren gespitzt. Jo Anns Bedürfnis sich mitzuteilen war noch ungebrochen und der Anblick des treuen Tiers ermunterte sie, ihn als Ersatz für die Person herzunehmen, der sie eigentlich ihre Seele ausschütten wollte.
„Ich hätte mir das längst schon alles einmal von der Seele reden sollen“, erklärte sie Tiger, „aber mir war nie danach. Warum sollte ich auch? Es war doch alles längst vorbei und vergessen. Kurt hatte seine Ruhe, und ich auch. Und nun soll alles wieder von vorne beginnen? Als ob es damals nicht schon schwer genug gewesen wäre.“ Sie dachte kurz nach, und dann erzählte sie dem Hund, was sie nie zuvor jemandem anvertraut hatte.
„Weißt du, als Kurt tot war, war das überhaupt nicht schlimm für mich, im Gegenteil. Ich musste mich manchmal geradezu beherrschen, um nicht allzu vergnügt zu wirken. Das darf man nämlich nicht, als frischgebackene Witwe!“ Sie lachte trocken auf. „Tatsächlich dachten alle Leute hier, wie schwer es für mich sei! Ohne Mann und ganz allein mit der Mine, die wir gerade so weit hatten, dass wir die Bank beruhigen und ein bisschen für uns zur Seite legen konnten. Allen habe ich damals leidgetan, so jung, und ohne den netten, tüchtigen Riesenkerl an meiner Seite, der stets so höflich war. Willst du hören, wie er wirklich war? Er war immer nur nett und aufmerksam, wenn andere in der Nähe waren. Aber draußen im Busch kommandierte er mich herum wie er gerade lustig und launig war. Johanna dies, Johanna das! Johanna, steig die Leiter hoch und hol mir meine Flasche! Johanna, das ist die falsche, ich hab doch gesagt, ich will die Cola, nicht das Wasser! Johanna, wo bleibst du denn so lange? Bist du wieder träge heute! Du brauchst wohl wieder mal eine kleine Lektion. Du musst lernen, wie man richtig zuhört. Also legen wir heute Abend eine Sonderstunde ein und ich werde mich um dich kümmern. Ja, wenn du mich nicht hättest! Ja, wenn ich ihn nur nicht hätte, habe ich mir oft gedacht. Dabei habe ich anfangs wirklich viel falsch gemacht. Woher sollte ich auch wissen, was man zum Überleben im Busch alles wissen muss? Ohne Kurt wäre ich nicht weit gekommen, das haben sie alle geglaubt. Und als er nicht mehr lebte, waren sie überzeugt, ich würde bald aufgeben und wegziehen. Ha! Weißt du, da habe ich heimlich gelacht und mir
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