Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)
anderes hinauslief als auf eine reine Vermögensansammlung, und er hatte schon gegen zwanzig auf alles, was da auf ihn zukommen sollte, verzichtet. Auch seine ältere Schwester, Marie, hatte diesen stupiden Mechanismus als eine Zumutung durchschaut und in jungen Jahren einen sogenannten Kunstmaler aus Eger geheiratet, der später in Mexiko eine Berühmtheit geworden ist, von welcher heute noch die großen Zeitungen in ihren Kunstspalten schreiben und die eine Tochter von diesem Maler jahrzehntelang durch den Orient getrieben hat, von Pascha zu Pascha, von Scheich zu Scheich, von Bei zu Bei, bis diese Tochter, schon in den vierziger Jahren und von allen Scheichs und Paschas und Beis getrennt, nurmehr mit vergilbten Erinnerungsstücken an die orientalischen Jahre, auf dem Burgtheater landete als mittelmäßige Schauspielerin, die in Nestroy-Possen und sogar einmal in der Goetheschen Iphigenie gute Figur gemacht haben soll. Noch heute ist ein riesiges, an die Felswand der sogenannten Marienklause nahe Henndorf gegen den Wallersee von meinem Urgroßvater für dessen Schwiegersohn aus Eger gebautes Atelier zu bewundern, mit seinen an die zwanzig Meter hohen Glasfenstern, an welchen sich, wie sich noch meine Mutter erinnerte, Schlangen sonnten. Die jüngere Schwester meines Großvaters, Rosina, war zuhause geblieben, ein echtes, ein richtiges Kind der Idylle, unfähig, auch nur zehn Kilometer aus Henndorf wegzureisen, die in ihrem Leben niemals in Wien, aber wahrscheinlich auch niemals in Salzburg gewesen war und die ich drei- oder vierjährig und noch viel später als Regentin ihres Einkaufs- und Verkaufsimperiums bewunderte. Ein älterer Bruder meines Großvaters, Rudolf, hatte Zuflucht im Forst gesucht und als Förster der gräflich Uiberackerischen Waldungen rund um den Waller- und den Mondsee Selbstmord begangen mit zweiunddreißig. Immerhin, weil er »das Unglück der Welt nicht länger ertragen« hatte können, wie er auf einem handgeschriebenen Zettel vermerkte, den man neben seiner Leiche und dem an der Leiche wachenden Dackel gefunden hatte. Alle, bis auf Rosina, waren sie flüchtig, hatten genug von dem Gleich- und Leerlauf der Dorfexistenz. Marie floh in den Orient, Rudolf direkt in den Himmel, mein Großvater aus dem Priesterseminar in die Schweiz, wo er Technik studierte und sich mit ein paar gleichgesinnten Anarchisten zusammentat. Es war die Zeit Lenins und Kropotkins. Er war aber nicht nach Zürich, sondern nach Basel gegangen und hatte sich lange Haare wachsen lassen. Seine Hosen waren ausgefranst, wie übriggebliebene Fotos beweisen, auf der Nase hatte er den berühmt-berüchtigten Anarchistenzwicker. Aber er lenkte seine Energie nicht in die Politik, sondern in die Literatur. Er lebte in einem Haus neben dem Haus der berühmten Lou Salomé und ließ sich von der Schwester Rosina monatlich eine Kiste mit Butter und Würsten schikken. Seine Lebensgefährtin, meine spätere Großmutter, die jahrelang mit einem Salzburger Schneider in einer von ihren Eltern erzwungenen entsetzlichen Ehe gelebt hatte, erschien unter Zurücklassung ihres Mannes und zweier Kinder in Basel, fiel meinem Großvater um den Hals und beteuerte, von jetzt an mit ihm zu leben, gleich wo, für immer. So wurde meine Mutter in Basel geboren. Ein schönes Kind. Dieses schöne Kind behielt seine Schönheit. Ich bewunderte meine Mutter, und ich war stolz auf sie. Ich ahnte als kleines Kind bereits ihre Hilflosigkeit mir gegenüber und nützte sie aus. Sie hatte keine andere Wahl, als zum Ochsenziemer zu greifen. Wenn die Schläge auf meinen Kopf und wohin immer nichts fruchteten, suchte sie Zuflucht zu den schon erwähnten Sätzen, deren Fürchterlichkeit ich natürlich nicht entkommen konnte. Das Wort war hundertmal mächtiger als der Stock. Sie züchtigte mich, aber sie erzog mich nicht. Sie hat keines ihrer Kinder erziehen können, weder meinen Bruder noch meine Schwester. Ich war sieben Jahre alt, als mein Bruder geboren wurde, neun, als meine Schwester auf die Welt kam, wie es heißt. Vor dem Ochsenziemer hatte ich Angst, aber die Schläge, die meine Mutter mir damit zufügte, hatten keine tiefere Wirkung. Mit teuflischen Wörtern erreichte sie ihr Ziel, daß sie Ruhe hatte, andererseits stürzte sie mich damit jedesmal in den fürchterlichsten aller Abgründe, aus welchem ich dann zeitlebens nicht mehr herausgekommen bin.
Du hast mir noch gefehlt! Du bist mein Tod!
In den Träumen werde ich noch heute damit gepeinigt. Sie wußte
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