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Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Titel: Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Bernhard
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und unter den groteskesten und gleichzeitig fürchterlichsten Umständen gezogen waren. Mein Großvater hatte Wien endgültig den Rücken gekehrt, er wunderte sich nachträglich, daß er dazu noch die Kraft gehabt hatte. Der Aufbruch aus Wien, auf das Land, nur sechs Kilometer von Henndorf, also der engeren Heimat entfernt, muß ziemlich abrupt vorgenommen worden sein, denn ich erinnere mich, daß wir zuallererst in der Bahnhofswirtschaft von Seekirchen Station machten. Mehrere Wochen hausten wir dort in einem Gästezimmer, in welchem ständig unsere Wäsche über unseren Köpfen hing, und wenn ich
Gute Nacht
sagte, damals hatte ich dazu noch die Hände gefaltet, schaute ich durch ein hohes Fenster direkt auf den sich rasch unter der versinkenden Sonne verdüsternden See. Wir hatten aus Wien außer Tausenden von Büchern, die aber erst nachkommen sollten, nichts mitgenommen, weder Möbel noch sonst etwas, nur zwei Koffer und unsere Kleidung. Wahrscheinlich war die Einrichtung in der Wernhardtstraße den Transport nicht wert gewesen. Meine Großmutter hatte oft lachend erzählt, daß ihre Möbel niemals etwas anderes gewesen seien als billige Zuckerkisten, die sie sich jeweils von den nahe ihren Wohnungen liegenden Krämern hatte schenken lassen. Zwanzig Jahre Wien waren deshalb für die Meinigen eine Ungeheuerlichkeit, weil sie vorher alle Augenblicke und alles in allem an die hundertmal den Wohnsitz gewechselt haben, wie ich weiß. Dieser Unruhe müde geworden, hatten sie sich in der Wernhardtstraße in Wien sozusagen für immer und endgültig niedergelassen. Aber auch die Wernhardtstraße war aufeinmal Vergangenheit. Sie trauerten Wien nicht nach, die Not war dort zu groß gewesen, das tägliche Überleben beinahe unmöglich. Meine Mutter war mit ihrem in Seekirchen angetrauten Mann in Wien geblieben. Ich sah sie jetzt selten, vielleicht zwei- oder dreimal im Jahr. Ich befand mich ganz unter dem Schutz meiner Großeltern. Hier, in dieser Bahnhofswirtschaft gegenüber dem Bahnhof, wo hinter kleinen, behutsam gepflegten Gewürzbeeten bis zum See hinunter das Moor lag, sonst nichts, ist der Anfang meiner Erinnerung, die ich als kontinuierlich bezeichnen kann. Wir hatten in der Bahnhofswirtschaft nur ein Zimmer im ersten Stock gemietet, meine Großmutter kochte, wahrscheinlich hatten wir nicht das Geld, um in der Wirtsstube unten zu essen. Mein Großvater, den ich über alles liebte, war hier aufeinmal der städtisch gekleidete Herr mit dem Spazierstock, dem man neugierig, gleichzeitig argwöhnisch begegnete. Ein Romanschreiber, ein Denker! Die Verachtung, die er auf sich zog, war größer als die Bewunderung. Der Herr hatte nicht einmal das Geld, um in die Wirtsstube essen zu gehen. Sie arbeiteten, er ging spazieren. Meine Großmutter fand auf dem Hippinggut, hoch über Seekirchen, Arbeit, sie hütete die Kinder, half beim Wäschewaschen, sie war in allem, was sie anpackte, tüchtig, sie war bald angefreundet. Sie verdiente so viel, daß wir existieren konnten. Ihre Nähkunst, die immer von allen bewundert worden war, konnte sich auf dem Hippinggut voll entfalten. Sie war in kurzer Zeit so beliebt, daß auch der Schriftsteller, der Spaziergänger, der Denker davon profitierte. Aufeinmal waren wir in Seekirchen geachtete Leute. Wir zogen aus dem Bahnhofsgasthaus in die Ortsmitte, in ein fünfhundert Jahre altes baufälliges Haus, von welchem aus ich nicht weit auf den Friedhof hatte. Wir bleiben da, sagte mein Großvater. Ich war drei Jahre alt, ich war überzeugt, daß wir, meine Großeltern und ich, ganz und gar außerordentliche Leute waren. Mit diesem Anspruch stand ich jeden Tag auf in einer Welt, von deren Ungeheuerlichkeit ich nur eine Ahnung hatte, ich war gewillt, sie zu erforschen, sie mir klarzumachen, aufzuschlüsseln. Ich war drei Jahre alt und hatte mehr gesehen als andere Kinder meines Alters, ich hatte die Luft der Nordsee, wenn nicht gar des Atlantik ein Jahr lang eingeatmet genauso wie den würzigen Geruch der Stadt Wien. Nun atmete ich die salzburgische Landluft in vollen Zügen, die Luft meiner Eltern. Hier also war mein Vater geboren worden, hier verbrachte meine Mutter ihre Kindheit, in der Umwelt des Sees, der für mich voller ungelöster Rätsel und der Mittelpunkt zahlreicher von meinem Großvater nur für mich vor dem Zubettgehen erfundener Märchen war. Die Welt war nicht aus Mauern wie in Wien, sie war grün im Sommer, braun im Herbst, weiß im Winter, die Jahreszeiten waren noch nicht so

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