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Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Titel: Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Bernhard
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am Meerwasser bin, kann ich richtig atmen, von meinen Denkmöglichkeiten ganz zu schweigen. Natürlich sind aus dieser Zeit keinerlei Eindrücke zurückgeblieben, allerdings, denke ich, prägt mein damaliger Meeraufenthalt meine ganze Geschichte. Manchmal kommt es mir vor, wenn ich den Geruch des Meeres einatme, als wäre dieser Geruch meine erste Erinnerung. Nicht ohne Stolz denke ich oft, ich bin ein Kind des Meeres, nicht der Berge. Tatsächlich fühle ich mich in den Bergen nicht wohl, ich habe heute noch Angst, sie erdrücken mich, ich ersticke in ihnen. Ideal ist für mich das Alpen
vor
land, wo ich den Großteil meiner Kindheit verbrachte, im bayerischen in der Nähe des Chiemsees und im salzburgischen, aber diese Zeit liegt weit zurück, sie reicht von meinem dritten bis zu meinem siebenten Lebensjahr. Vorher war ich, nach dem ersten, dem Hollandjahr, zwei Jahre in Wien gewesen. Wahrscheinlich in dem Augenblick, in welchem sie absolut keinen Ausweg mehr wußte, gestand meine Mutter von Rotterdam aus meinen Großeltern, ihren Eltern also, mein Dasein. Sie wurde mit offenen Armen in Wien aufgenommen. Sie hatte mich noch einmal in den Wäschekorb gelegt und war mit mir über Tag und Nacht nach Wien. Ich hatte von jetzt an nicht nur die Mutter, ich hatte auch Großeltern. In der Wernhardtstraße im sechzehnten Bezirk, in der Nähe des Wilhelminenspitals, habe ich zum erstenmal in meinem Leben das Wort
Großvater
ausgesprochen. Aus dieser Zeit habe ich mir eine Reihe Bilder bewahrt. Ein Fenster mit dem Blick auf einen riesigen Akazienbaum, ein abschüssiges Straßenstück, über das ich auf einem Dreirad bergab rolle. Schlittenfahrten mit meinem Großvater unter der sogenannten Ameisbrücke. Den langen Eisenzaun der Irrenanstalt am Steinhof entlang zieht mich mein Großvater in einem luxuriösen Zweirad mit großzügiger Lehne und Armstützen und mit einer langen Holzstange. Davon existiert noch ein Foto. Es heißt, ich sei in meinem zweiten Jahr von der Singer-Nähmaschine meiner Großmutter heruntergefallen, auf die mich mein Onkel gesetzt hatte. Mit einer Gehirnerschütterung sei ich mehrere Tage im Wilhelminenspital gelegen. Daran erinnere ich mich nicht. Die Wiener Zeit unter der Obhut meines Großvaters, meiner Großmutter und meiner Mutter, mit meinem Onkel Farald zusammen, der für ständige Abwechslung sorgte, ist mir nur noch in einzelnen, wenigen Bildern erhalten. Mein Großvater, der Schriftsteller, schrieb, meine Großmutter übte den von ihr erlernten Beruf der Hebamme aus, meine Mutter verdiente als Hausangestellte, zeitweise auch als Köchin etwas Geld. Es war deprimierend: mit sieben Jahren tanzte sie in der Hofoper in
Schneewittchen
und bekam dafür vom Kaiser eine Medaille. Mit zwölf erkrankte sie an einem sogenannten Lungenspitzenkatarrh und mußte auf die Karriere einer Primaballerina, die ihr Vater ihr zugedacht hatte, verzichten. Die Tochter sollte in dem allerhöchsten Musentempel des Reiches Karriere machen und hatte tatsächlich alle Voraussetzungen dazu, wie ich weiß, und landete staubwischend in den Vor- und Schlafzimmern der Neureichen Döblings und in diversen Küchen in der Gegend der Währinger Hauptstraße, der Sohn war zum Philosophen auserwählt, schloß sich aber eines Nachts der Kommunistischen Partei an, war Freund und Gehilfe des berühmten Ernst Fischer und landete schließlich nacheinander in den verschiedenen Gefängnissen in Wien und den Bundesländern. Als ich so klein war, daß ich noch nicht gehen konnte, klopfte alle Augenblicke die Polizei an die Tür unserer Wohnung in der Wernhardtstraße, um meinen Onkel abzuholen. Der war aber nie zuhause, lebte sozusagen im Untergrund. Seine Spezialität war es, in der Nacht mit mehreren seiner Genossen, die dafür ausgesucht waren, großflächige Transparente über die wichtigsten Straßen der Hauptstadt zu spannen, auf welchen der Kommunismus als die einzig mögliche menschenwürdige Zukunft gepriesen wurde. In dieser Zeit, als mein Onkel um die zwanzig war, lernte er den gerade freigesprochenen Friseurgehilfen Emil Fabjan kennen, der in der Nähe der Maroltingergasse in einem Damen- und Herrengeschäft angestellt war. Er lockte den naiven Vorstadtjüngling, dem damals die Welt noch ein festverschnürtes Rätsel war, in die Partei und freundete sich mit ihm an. Eines Tages brachte er den neuen Genossen mit in die Wernhardtstraße. Mein Großvater fand Gefallen an dem unverdorbenen Burschen, der den Schriftsteller und daß es

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