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Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Titel: Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Bernhard
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ineinandergeschoben wie heute. Mein bevorzugter Platz in Seekirchen war von allem Anfang an der Friedhof, mit seinen pompösen Grüften, den riesigen Granitgrabsteinen der Wohlhabenden, den kleinen verrosteten Eisenkreuzen der Armen und den winzigen weißen Holzkreuzen der Kindergräber. Die Toten waren schon damals meine liebsten Vertrauten, ich näherte mich ihnen ungezwungen. Stundenlang saß ich auf irgendeiner Grabeinfassung und grübelte über Sein und sein Gegenteil nach. Naturgemäß kam ich schon damals zu keinem befriedigenden Schluß. Die Aufschriften auf den Grabsteinen flößten mir einen ungeheuren Respekt ein, am meisten das Wort
Fabrikant
. Was ist ein Fabrikant? fragte ich mich. Oder: was ist ein Ingenieur? Ich lief nachhause und stellte meinem Großvater die Frage nach dem Fabrikanten wie nach dem Ingenieur, nun hatte ich die Erklärung. Immer, wenn mir etwas spanisch vorgekommen war, wenn ich in meiner Aufklärungsbemühung scheiterte, lief ich, gleich von wo, zu meinem Großvater. Ich solle es mir zur Gewohnheit machen, so lange über eine ungelöste Frage nachzudenken, bis sich die Lösung von selbst ergebe, sagte mein Großvater, dann hätte ich mehr davon. Die Fragen häuften sich, die Antworten waren immer mehr Mosaiksteine des großen Weltbilds. Und wenn wir das ganze Leben ununterbrochen Fragen beantwortet bekämen und hätten schließlich alle Fragen gelöst, wir wären am Ende doch nicht viel weiter gekommen, so mein Großvater. Ich beobachtete mit Liebe, wie er schrieb und wie ihm meine Großmutter dabei aus dem Weg ging, behutsam lud sie zum Frühstück, zum Mittagessen, zum Nachtmahl, wir hatten die Behutsamkeit meinem Großvater gegenüber zu unserer Hauptdisziplin gemacht, solange er lebte, war die Behutsamkeit oberstes Gebot. Alles mußte leise gesprochen sein, wir mußten leise gehen, wir mußten uns ununterbrochen leise verhalten. Der Kopf ist zerbrechlich wie ein Ei, so mein Großvater, das leuchtete mir ein, erschütterte mich gleichzeitig. Um drei Uhr früh stand er auf, um neun ging er spazieren. Nachmittags arbeitete er noch zwei Stunden zwischen drei und fünf. Der Weg auf die Post war der Höhepunkt: ob eine Geldanweisung aus Wien für ihn da sei. Meine Mutter überwies für mich einen Großteil ihres Verdienstes. Heute weiß ich, wir lebten in Seekirchen von diesem Geld. Zusätzlich brachte meine Großmutter die Früchte ihrer Nähkunst und des Kinderaufpassens etcetera von Hipping herunter. Ich hatte einen Freund gefunden, den einzigen Sohn des Käsereibesitzers Wöhrle, des wohlhabendsten Mannes der ganzen Region. Ich lernte ein sogenanntes großes Haus kennen, mit Säulengängen aus Marmor und mit großen Zimmern, in welchen persische Teppiche lagen. Als ich mich mit meinem Freund für immer verschworen hatte, starb er, vierjährig, an einer unerklärlichen Krankheit. Wo er mit mir noch Tage vorher gespielt hatte, in der Gruft seiner Familie, über welcher ein riesiger Marmorengel die Flügel ausbreitete, lag er nun, ich rief seinen Namen, bekam aber keine Antwort. Die Marmorplatte lag auf ihm und auf unserer Freundschaft. Tagelang ging ich auf den Friedhof zur Wöhrlegruft, aber es nützte nichts, meine Bitten wurden nicht erhört, ich sah, daß meine Beschwörungen völlig umsonst waren. Die Blumen waren verwelkt, ich kniete da und weinte. Zum erstenmal hatte ich einen Menschen verloren. Jedes zweite oder dritte Haus im Ort war ein Wirtshaus, aber ich war noch in kein einziges eingetreten, in der Dämmerung waren alle überfüllt, und der ganze Ort war voll Musik aus den Wirtshäusern. Aber der Besuch eines Wirtshauses kam nicht in Frage. Ich kann mich nicht erinnern, jemals mit meinem Großvater in einem Wirtshaus gewesen zu sein. Was mir in der ersten Seekirchner Zeit verwehrt gewesen war, sollte später zur Regel werden. Wenn ich hinter zugezogenen Vorhängen in meinem Bett lag, horchte ich auf die Geräusche aus den Wirtshäusern. Was bewirkte, daß alle diese Leute so gut aufgelegt waren, daß sie nur tanzten und sangen? Der Mond erhellte mein Bett, ein großes Zimmer, von dessen Wänden Tapetenfetzen mit großen Blumenmustern herunterhingen. Ich blickte von meinem Bett aus direkt in den Orient. Ich schlief in einem Palmengarten. Ich hatte eine Moschee an einem blauen Meeresufer. In der Nacht hörte ich die Mäuse unter und über meinem Bett, sie kamen jede Nacht, obwohl sie so hungrig, wie sie gekommen waren, wieder abziehen mußten, denn hier fanden sie nichts.

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