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Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Titel: Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Bernhard
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selbst ein beruhigendes Bild von den Meinigen und von meinem Zuhause. Um mich selbst zu schützen, verfälschte ich mein Zuhause und machte niemals auch nur die geringste Andeutung davon, wie mein Zuhause wirklich gewesen ist, erbärmlich und hoffnungslos. Verschweigen ist keine Lüge, und ich verschwieg fast alles. Ging ich aus dem Haus, in welchem ich immer nur deprimiert gewesen war, atmete ich auf und beschleunigte meine Schritte und lief wie um mein Leben an jedem Tag durch die Rudolf-Biebl-Straße in die Scherzhauserfeldsiedlung hinunter. Als ein Trauriger und Mißmutiger war ich aus dem Zuhause hinausgegangen und als ein Fröhlicher in die Scherzhauserfeldsiedlung hinein. Die Weite meines Weges war genau die richtige Weite, die notwendig gewesen ist, um aus dem Mißmutigen, Traurigen, einen Fröhlichen zu machen. Und es war ein angenehmer, leicht bergab führender Weg in guter freier würziger Luft gewesen. Ab und zu ging ich allein auf den Mönchsberg und legte mich da oben ins Gras und schrieb, unter einer Baumkrone sitzend, Gedichte, oder ich befaßte mich, einmal in der Woche war Schultag in Parsch, mit dem Berufsschul-stoff, mit den Hunderten von Kaffee- und Teesorten in allen Erdteilen, mit einfachen oder ganz ausgefallenen Rechenkunststücken, mit Zinsfüßen und Großhandelsspannen, mit dem Wechselgeschäft und mit den neuesten Kreditkonditionen, und ich zeichnete auf die letzten Seiten meiner Schulhefte Portale und Innenansichten von Geschäften, die ich mir als meine zukünftigen eigenen ganz gut vorstellen konnte. Mit Reis und Grieß hatte ich mich ohne Widerstand eingelassen, mit dem sogenannten russischen Tee und mit dem brasilianischen Kaffee jedenfalls mit weit weniger Abscheu als mit Alexander, Caesar, Vergil und so fort. An den Wochenenden war mir die ungeheuerliche Spannung zwischen meinem Zuhause (als der einen Welt) und dem Keller (als der entgegengesetzten anderen) zu Bewußtsein gekommen, was es bedeutete, diese Spannung auch auszuhalten. Mein Großvater unternahm jeden Tag um drei Uhr früh einen neuen Anlauf;
Das Tal der sieben Höfe
, ein von ihm in drei Teilen geplantes Fünfzehnhundertseitenmanuskript, ließ ihn schon seit vielen Jahren um drei Uhr früh den Kampf mit dem Tode aufnehmen; zeitlebens von einer schweren Lungenkrankheit geschwächt, hatte er es sich zur Gewohnheit gemacht, seinen Tag schon um drei Uhr früh zu eröffnen, mit dem tödlichen Geschäft des fanatischen Schriftstellers und Philosophen zu eröffnen, sich in die Pferdedecke zu wickeln und einen alten Riemen um seinen Körper zu schnallen, ich hörte ihn um drei Uhr früh in seinem Zimmer den Kampf aufnehmen mit dem Unmöglichen, mit der totalen Aussichtslosigkeit der Schriftstellerei. Im Vorzimmer, gleich neben der Wohnungstür im Bett liegend, verfolgte ich mit der Aufmerksamkeit des empfindsamen und liebenden, noch nicht mit allen grausamen Vergeblichkeiten und Hoffnungslosigkeiten vertrauten Enkels die Geräusche, die neuerliche Überwindung der Todesangst und den immer wieder von neuem aufgenommenen Verzweiflungskampf des von mir wie keinen anderen geliebten Menschen, der sein sogenanntes Hauptwerk zu Ende gebracht haben wollte. Mir war die Sinnlosigkeit und die Wirkungslosigkeit von sogenannten Hauptwerken noch nicht vertraut gewesen, mit meinen sechzehn oder siebzehn Jahren hatte ich aber durch die ununterbrochene Nähe meines Großvaters doch eine Ahnung gehabt von der Fürchterlichkeit schriftstellerischer oder überhaupt künstlerischer und geistig-philosophischer Bemühung. Ich bewunderte die Zähigkeit und die ununterbrochene Ausdauer und die Unermüdlichkeit meines Großvaters gegenüber allen seinen aufgeschriebenen und nichtaufgeschriebenen Gedanken, weil ich alles an ihm bewunderte, aber ich sah gleichzeitig auch die im wahrsten Sinne des Wortes entsetzliche Verrücktheit, in die sich ein Mensch wie mein Großvater verrannt haben mußte, und wie er mit rasender und dadurch krankhafter Geschwindigkeit sein Leben in eine menschliche und philosophische Sackgasse treiben mußte. Er hätte Priester und Bischof werden sollen und ursprünglich Politiker, Sozialist, Kommunist, werden wollen, und ist, wie alle, die sich im Schreiben versuchen, aus Enttäuschung über alle diese unmöglichen Kategorien, ein über diese Kategorien und Idiotien und Philosophien philosophierender Schriftsteller und naturgemäß in dieser seiner Schriftstellerei verlorener Einzelgänger geworden. Um drei Uhr früh hörte ich,

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