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Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Titel: Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Bernhard
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Boden gewachsen, die Wiesen sind verbaut, Zehntausende wohnen jetzt in grauen, geistlosen Betonklötzen auf den Grundstücken, über die ich tagtäglich in den Keller gegangen bin. Ein Vierteljahrhundert war ich nicht mehr in der Scherzhauserfeldsiedlung gewesen, aber es war der gleiche Geruch, es waren die gleichen Geräusche. Da stand ich und schaute hinein und dachte, wie ich das gemacht habe, daß ich mit Neunzigkilosäcken aus dem Magazin herüber, also zuerst aus dem Magazin die Treppe hinauf und um die Blockecke und wieder die Treppe in das Geschäft hinunter, gekommen bin. Ich habe Hunderte und nicht Hunderte, sondern Tausende von Mehlsäcken und Grießsäcken und Zuckersäcken und Erdäpfelsäcken über diese Treppen getragen. Es war mir nicht leichtgefallen, aber ich hatte es zustande gebracht. Ich habe das Scherengitter aufgemacht und die Menschenmeute in das Geschäft hineingelassen. Ich habe alle diese Menschen, die hier wohnen oder hausen und zu Hunderten und Tausenden wahrscheinlich immer noch als dieselben wie damals, wenn auch um ein Vierteljahrhundert älter, bedient, ich habe diesen Menschen die Tür aufgemacht, und ich habe ihnen Brotlaibe eingewickelt und Wurst abgeschnitten und Butterpakete in die Taschen gestopft. Wie oft habe ich mich, vor allem an den Tagen der Lebensmittelaufrufe, verrechnet. Zum Vorteil des Chefs, zu seinem Nachteil. Ich mußte nach jedem Lebensmittelaufruf viele Reklamationen über mich ergehen lassen. Vielen habe ich mehr gegeben, als ihnen laut Lebensmittelkarten zugestanden ist, aus Mitleid. Ich war nicht immer ganz ehrlich. Da stand ich und dachte, ob wohl die alte Frau Laukesch oder Lukesch noch lebt? Was aus diesen und jenen Kindern geworden ist? Einzelne Gesichter waren mir noch bis in die verborgensten Einzelheiten hinein gegenwärtig. Ich hörte die Stimmen aller dieser Leute, und ich sah ihre geldzählenden Hände, ihre Beine oben hin und her gehen durch das Nebenzimmerfenster. Unerlaubt eine Wurstsemmel mehr gegessen, unerlaubt ein paar Äpfel mehr in die Einkaufstasche der oder jener Frau. Wer fragt heute danach. Die Geschicklichkeit, mit welcher ich den Himbeersaft einfüllen konnte in die Flaschen, das Mißgeschick mit dem Siebzigkilokukuruzsack, mit dem ich an der Hausecke angestreift bin und der über die ganze regennasse Treppe hinunter ausgeronnen ist. Wie sie, der Chef und der Gehilfe Herbert, den Lehrling Karl beim Diebstahl ertappt haben und wieder ertappt haben und wieder ertappt haben und wie der Karl über Nacht verschwunden ist und seine verzweifelte Mutter in das Geschäft gekommen ist, für ihren Sohn bittend. Aber der Karl ist nicht mehr aufgetaucht. Er war zur Fremdenlegion gegangen. Der Chef hat keinen Lehrling mehr aufgenommen, ich war der letzte. Der Gehilfe Herbert machte sich selbständig, eröffnete in der Stadt eine Kaffeerösterei. Die Hälfte meiner Lehrzeit war ich mit dem Chef allein, auch das war gegangen, wir hatten gut zusammengearbeitet. Wir hatten uns vertragen. Wir hatten uns respektiert. Ich war im Geschäft und machte alles, und ich bändigte auch die Hunderte von Kunden an einem Aufrufstag mit der Leichtigkeit des glücklichen Selbstbewußten, während der Chef die Lebensmittel heranbrachte. Auch mit den Schwierigen unter den Kunden war ich fertig geworden. Mit der Frau Lukesch oder Laukesch, deren Sohn sich in eine ausweglose Karriere als Volksschauspieler in dem schon erwähnten Bierkeller verrannt hatte und der sich eines Tages umgebracht hat. Kurz darauf hat sich auch die Frau Laukesch oder Lukesch umgebracht. Und die alleinstehende Frau, die genau über dem Geschäft wohnte, ich habe ihren Namen vergessen, ist erwürgt worden, davon habe ich zwanzig Jahre nach Beendigung meiner Lehrzeit in der Zeitung gelesen. Ich schaute zu den Fenstern hinauf. Vielleicht wohnen jetzt ihre Kinder dort. Ich sehe sie noch vor mir, eine rostrote Bluse hat sie angehabt, dachte ich, war nie ohne Hut gegangen. Die Stimme der Frau war heiser. Die nebenan wohnte, habe ich einmal als schüchterne Garderobiere im Festspielhaus gesehen. Ich schaute in den Laden hinein, und ich sah mich hinter der Budel, hörte mein lautes Lachen, wie die andern darauf noch lauter auflachten. Das Knistern der Autopneus hinter mir, das war der Wagen des Chefs, wie er sich dem Keller näherte. Ich lief aus dem Geschäft und die Treppe hinauf und half dem Chef die Waren ausladen, in den Keller hinuntertragen. Er habe wieder zuviel Zwiebel eingekauft, zuviel

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