Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)
in ihrem Garten Früchte getragen. Dann führte mich mein Weg hinüber zur Taubstummenanstalt mit ihren hohen Bäumen und kunstvoll angelegten Glashäusern, in welchen die Taubstummen tagsüber beschäftigt waren, von weißgeflügelten Nonnen betreut, und über die Eisenbahngeleise. Ich hatte die Wahl, durch die Unterführung zu gehen oder über die Geleise, ich hatte immer den verbotenen Weg gewählt, wenn ich Zeit dazu hatte. Die Samstage führten mich aus dem Geschäft und aus der Scherzhauserfeldsiedlung immer gerade in die Melancholie hinein, schon in der Scherzhauserfeldsiedlung war diese nur von Essengeschirrgeräuschen aus den Fenstern unterbrochene Stille den ganzen Weg entlang immer: es ist Samstag, niemand arbeitet etwas, die Leute liegen in ihren Wohnungen auf dem Diwan oder in ihren Betten herum und wissen nichts mit dieser Zeit anzufangen. Bis drei Uhr nachmittags herrschte diese Nachmittagsstille, bis sich in den Wohnungen Streitereien entwickelt hatten, und dann liefen manche aus ihren Behausungen, sehr oft schimpfend, schreiend oder mit zerstörtem Gesicht ins Freie. Die Samstagnachmittage habe ich immer als eine für alle sehr gefährliche Zeit empfunden, die Unzufriedenheit mit sich selbst und mit allem und jedem und das plötzliche Bewußtsein, tatsächlich das ganze Leben lang ausgenützt und sinnlos zu sein, erzeugten diese Stimmung, der die meisten mit erschrekkender Gründlichkeit ausgeliefert waren. Die meisten Menschen sind an ihre und an irgendeine regelmäßige Arbeit, Beschäftigung gewöhnt, setzt sie aus, verlieren sie augenblicklich den Inhalt und das Bewußtsein und sind nichts weiter mehr als ein krankhafter Verzweiflungszustand. Dem einzelnen geht es so wie den vielen. Sie denken, sie regenerieren sich, aber in Wirklichkeit ist es ein Vakuum, in welchem sie halb verrückt werden. So kommen sie alle an den Samstagnachmittagen auf die verrücktesten Ideen, und alles endet immer nur unbefriedigend. Sie fangen an, Kasten und Kommoden, Tische und Sessel und ihre eigenen Betten zu verschieben, ihre Kleider bürsten sie auf den Balkonen aus, ihre Schuhe putzen sie wie wahnsinnig Gewordene, die Frauen steigen auf die Fensterbänke, und die Männer gehen in den Keller und wirbeln dort mit dem Reisbesen den Staub auf. Ganze Familien glauben, Ordnung machen zu müssen, und stürzen sich auf den Inhalt ihrer Behausung und verrücken ihn und werden dadurch verrückt. Oder sie legen sich hin und geben sich mit ihren Gebrechen ab, flüchten und fliehen in ihre Krankheiten, die permanente Krankheiten sind, derer sie sich nach Arbeitsschluß an den Samstagnachmittagen erinnern. Die Ärzte kennen das, an den Samstagnachmittagen werden sie wie zu keinem anderen Zeitpunkt beansprucht. Mit dem Aussetzen der Arbeit setzen die Krankheiten ein, Schmerzen sind plötzlich da, das berühmte Samstagkopfweh, das Samstagnachmittagherzklopfen, Ohnmachtsanfälle, Wutausbrüche. Die ganze Woche werden die Krankheiten von der Arbeit und auch nur Beschäftigung niedergehalten, beschwichtigt, am Samstagnachmittag machen sie sich bemerkbar, und der Mensch kommt sofort aus dem Gleichgewicht. Und wenn er, der zu Mittag zu arbeiten aufgehört hat, sich kurz darauf auch nur seiner tatsächlichen Lage, die in jedem Falle immer nur eine hoffnungslose ist, gleich, wer er ist, gleich, was er ist, gleich, wo er ist, bewußt ist, er muß sich sagen, er ist nichts weiter als ein unglücklicher Mensch, auch wenn er das Gegenteil vorgibt. Die wenigen Glücklichen, die der Samstag nicht umwirft, bestätigen nur die Regel. Im Grunde ist der Samstag ein gefürchteter Tag, noch viel gefürchteter als der Sonntag, denn am Samstag weiß jeder, daß noch der Sonntag bevorsteht, und der Sonntag ist der furchtbarste Tag, aber auf den Sonntag folgt der Montag, und der ist der Arbeitstag, und das macht den Sonntag erträglich. Der Samstag ist fürchterlich, der Sonntag furchtbar, der Montag bringt die Erleichterung. Alles andere ist eine böswillige, dumme Behauptung. Am Samstag zieht sich das Gewitter zusammen, am Sonntag entlädt es sich, am Montag ist die Beruhigung eingetreten. Der Mensch liebt die Freiheit nicht, alles andere ist Lüge, er kann mit der Freiheit nichts anfangen, kaum ist er frei, beschäftigt er sich mit dem Öffnen von Kleider- und Wäschekommoden, mit dem Ordnen von alten Papieren, sucht er Fotografien, Dokumente, Briefe, geht er in den Garten und gräbt um oder läuft vollkommen sinn- und zwecklos in irgendeine
Weitere Kostenlose Bücher