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Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Titel: Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Bernhard
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Scherzhauserfeldsiedlungsgesindel
die übelsten Elemente
herausgepickt und in die Vergasung und sonstige Vernichtung geschickt. Die Minderheit hat wieder Angst. Aber wer das sagt, ist der Verleumdung sicher und wird sofort der Lüge bezichtigt. In der Scherzhauserfeldsiedlung waren keine Nationalsozialisten oder doch? Die Ausgestoßenen sind auch die Ausgestoßenen der Politik. Die Amerikaner hatten für ein paar Dutzend Familien in der Scherzhauserfeldsiedlung eine immense Verbesserung ihrer Verhältnisse gebracht. Um den Preis der schönen oder weniger schönen traurigen Mädchen. In der Scherzhauserfeldsiedlung, in der Vorhölle als Hölle, habe ich niemals gehört, dem Hitler sei
einer durch den Rost gefallen
, aber ich habe es immer und immer wieder überall sonst in der Stadt gehört. Und ich höre es wieder. In der Scherzhauserfeldsiedlung wohnen und hausen gebrannte Kinder. Sie sind ununterbrochen verletzbar und niemand schützt sie. Sie sind sich selbst überlassen und wissen das. Die Frage ist nicht, waren die Leute in der Scherzhauserfeldsiedlung weniger glücklich als die Leute in der Stadt, denn eine solche Frage kann überhaupt nicht beantwortet werden, wie die Frage nach dem Glück niemals beantwortet werden kann, wir vergleichen, wir vermuten, aber wir dürfen uns nicht zu einer Antwort verleiten lassen. Das Glück ist in allem und in keinem wie das Unglück. Was wir sehen, was sagt es? Wir stellen die Frage nach dem Glück oft, weil sie die einzige ist, die uns lebenslänglich und immer beschäftigt, ohne Unterlaß. Aber wir beantworten sie nicht, wenn wir klug sind, wenn wir uns nicht mit unserem eigenen Schmutz noch mehr beschmutzen wollen, als wir schon beschmutzt sind. Ich suchte die Veränderung, das Unbekannte, vielleicht auch das Erregende und Aufregende, und ich fand es in der Scherzhauserfeldsiedlung. Ich bin nicht mit Mitleid in die Scherzhauserfeldsiedlung hineingegangen, Mitleid habe ich immer gehaßt, und am tiefsten das Selbstmitleid. Ich gestattete mir das Mitleid nicht, und ich handelte nur aus dem Überlebensgrund. Nahe daran, meinem Leben ein Ende zu machen
aus allen Gründen
, hatte ich die Idee, den Weg, den ich viele Jahre schon in krankhafter Stumpfsinnigkeit und Phantasielosigkeit gegangen war und auf welchen ich in trübsinnigem Ehrgeiz von meinen Erziehern gestellt worden war, abzubrechen, ich habe kehrtgemacht und bin durch die Reichenhaller Straße zurückgelaufen, zuerst einmal nur zurück, ohne zu wissen wohin zurück. Es muß von diesem Augenblick an etwas vollkommen anderes sein, habe ich gedacht, mehr nicht in der Aufregung, etwas dem, das ich bisher gemacht habe, vollkommen Entgegengesetztes. Und das Arbeitsamt in der Gaswerkgasse war genau in der entgegengesetzten Richtung, und ich wäre aus dieser entgegengesetzten Richtung unter keinen Umständen mehr umgekehrt. Die Scherzhauserfeldsiedlung war der äußerste Punkt der entgegengesetzten Richtung gewesen, und diesen äußersten Punkt habe ich mir zum Ziel gesetzt. An diesem äußersten Punkt durfte ich nicht mehr scheitern. Und nicht nur geografisch war die Scherzhauserfeldsiedlung der äußerste entgegengesetzte Punkt gewesen, in jeder Beziehung. Dort gab es nichts, das auch nur im entferntesten an die Stadt erinnerte und an alles, was mich in dieser Stadt jahrelang gequält und in die Verzweiflung und in beinahe schon ausschließliches Selbstmorddenken getrieben hatte. Hier gab es keinen Professor für Mathematik und keinen Professor für Latein und keinen Professor für Griechisch, und es gab keinen despotischen Direktor, bei dessen Auftauchen es mir schon den Atem verschlagen mußte, hier gab es
keine tödliche Institution
. Hier mußte man sich nicht ununterbrochen zusammennehmen, ducken, heucheln und lügen, um zu überleben. Hier war nicht alles an mir fortwährend den ja schon tödlichen kritischen Blicken ausgesetzt, und hier wurde nicht fortwährend unerhörtes Unmenschliches, die Unmenschlichkeit selbst von mir gefordert. Hier war ich nicht zur Lern- und Denkmaschine gemacht, hier konnte ich sein, wie ich war. Und alle andern konnten sein, wie sie waren. Hier wurden die Menschen nicht, wie in der Stadt, fortwährend und tagtäglich raffinierter in eine künstliche Form gepreßt. Man ließ sie in Ruhe, und auch mich hat man vom ersten Augenblick an in der Scherzhauserfeldsiedlung in Ruhe gelassen. Man durfte nicht nur denken, was man wollte, man durfte das Gedachte auch aussprechen, wann und wie man

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