Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)
auf den Rücken zu hieven und zu tragen, war für mich keine Schwierigkeit. Ich hatte keine der Hunderte und Tausende von Tätigkeiten im Keller jemals als Degradierung empfunden. War die Fensterwäsche vorbei und waren alle Ladenfenster von mir blankgeputzt, fuhr immer ein Auto in die Wasserlache über der Eingangstür, und meine ganze Arbeit war wieder umsonst gewesen. Ich hätte sicher noch viele in der Scherzhauserfeldsiedlung gekannt, wie auch mich noch viele gekannt hätten, ich hätte nur in einen der Wohnblöcke hineingehen müssen, aber ich tat es nicht. Mir war mehrere Male vorgekommen, als wäre mir die eine oder andere Stimme hinter mir vertraut. Was für ein Leben hier herrscht, dachte ich, jetzt ist außer dem alten Schmutz nichts im Keller. Auch die Ratten und Mäuse, die, solange ich im Keller gewesen bin, in den Keller hereingekommen sind, haben sich zurückgezogen. Auch für sie gab es nichts mehr im Keller. Was machen die alten Leute jetzt, wenn der Keller als Lebensmittelgeschäft nicht mehr existiert, und zum Supermarkt ist es ihnen zu weit? Die Kinder, die damals da drüben Ball gespielt haben, dachte ich, sind längst erwachsen. Was ist aus ihnen geworden? Wie viele von den älteren Menschen von damals leben noch? Ungezählte Mauerrisse, größer geworden, ich kannte sie. Dieselben Vornamen wurden gerufen, aber es handelte sich um andere Kinder. Vielleicht haben es einige aus der Siedlung zu etwas gebracht? Der Makel, die Scherzhauserfeldsiedlung zu sein,
der Abschaum der Menschheit
, wie ich immer wieder in bezug auf diese Leute gehört habe, ist ihnen geblieben. Kein Gasthaus in der Stadt hätte eine aus der Scherzhauserfeldsiedlung als Kellnerin angestellt. Kein Stadtgeschäft einen Mann aus der Scherzhauserfeldsiedlung als Verkäufer angelernt. Ein paar Eisenbahner, das war zu meiner Zeit das Höchste, das die Scherzhauserfeldsiedlung hervorgebracht hat. Wenn eine Partei, dann die Kommunistische. Aber die Kommunistische Partei ist in dieser Stadt immer eine lächerliche Minderheit gewesen, ein Hohn- und Spottverein. Die aus der Scherzhauserfeldsiedlung waren sicher nicht einmal bei der Feuerwehr. An einen Autobus- und an einen sogenannten Obusschaffner erinnere ich mich. Am Abend kamen die Männer, insoferne sie Arbeit hatten, bevor sie nachhause gingen, in den Keller Bier und Wurst und Rettich einkaufen. Sie kamen in Schlosseranzügen und bis in den Herbst hinein barfuß oder ohne Socken in Holzpantoffeln, fast immer schon betrunken, sich nach ihren Frauen erkundigend. Die halbwüchsigen Mädchen hielten es Tag und Nacht mit den Amerikanern. Die Amerikaner überhäuften ihre Mädchen aus der Siedlung mit Schokolade und mit Nylonstrümpfen und Nylonblusen und mit dem ganzen, plötzlich mit ihnen in Europa hereingebrochenen Luxusunrat. Die Mädchen malten sich alle wie chinesische Puppen an, und in den hohen Stöckelschuhen hatten sie einen frechen, gleichzeitig komischen Gang. Sie kamen ganz hochmütig in unser Geschäft herunter, auf das sie, die Glücklichen, die sich einen Amerikaner
angelacht
hatten, nicht mehr angewiesen waren. Die Familien, die ein Mädchen hatten, trieben es, wenn es schon nicht von selber wollte, zu den Amerikanern, ich erinnere mich an die sogenannte Regenbogendivision, die in Salzburg stationiert gewesen war, hatten für eine Zeit ausgesorgt und waren angefeindet von den andern, die kein solches Glück hatten. Auch in der Scherzhauserfeldsiedlung hatten sich die Amerikaner verheerend ausgewirkt. Die kleinen Mädchen mauserten sich über Nacht zur Amerikanerin. Einige von ihnen aus der Siedlung waren von den Amerikanern umgebracht worden. Es gab mehrere aufsehenerregende Prozesse vor amerikanischen Militärgerichten in der sogenannten Lehener Kaserne. Die uniformierten Mörder waren abgeurteilt worden und verschwanden von der Bildfläche und nach Amerika. In der Scherzhauserfeldsiedlung hatte es bezeichnenderweise keine Nationalsozialisten gegeben, aber auch die Gegnerschaft ihrer Einwohner änderte bei Kriegsschluß naturgemäß nichts an ihrem Zustand, der immer elendig und für den Großteil der Betrachter abstoßend gewesen war. Einzelne Kommunisten und von den Nationalsozialisten so genannte
Asoziale
waren von den Nationalsozialisten auch in der Scherzhauserfeldsiedlung ausgerottet worden, die Nazis hatten sich aus dem
Scherzhauserfeldsiedlungsgesindel
die, wie sie glaubten und sich auch zu sagen getrauten und sich auch heute wieder zu sagen getrauen, aus dem
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