Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)
verzweifelter Schüler kommt und sein vergiftetes Leben oder seine entsetzliche Existenz ändern will und schon im ersten Augenblick schwach wird vor ihr. Alle diese zerstörten Menschen, die wir kennen, sind im entscheidenden Augenblick schwach geworden, haben nachgegeben, aber man darf im entscheidenden Augenblick nicht nachgeben. So hatte sie aufeinmal die richtige Adresse aus dem Karteikasten herausgezogen, mein großes Los. Karl Podlaha, Scherzhauserfeldsiedlung, Block B. Mit dem Los in der Hand rannte ich hin, und ich mußte Glück haben. Der Anfang im Keller war schwer gewesen, das darf nicht verschwiegen sein. Werde ich die Anforderungen, die in einem solchen Laden an einen jungen, tatsächlich hypersensiblen Menschen von einem Augenblick auf den andern gestellt werden, erfüllen, es recht machen können? hatte ich mich gefragt. War ich nicht körperliche Arbeit überhaupt nicht gewöhnt und hatte immer Mühe gehabt, meine Schultasche durch die Reichenhaller Straße und durch das Neutor ins Gymnasium zu tragen? War es mir möglich, mit diesen Menschen, die mir alle unbekannt und in ihrer Art und Weise vollkommen fremd gewesen waren, fertig zu werden? Und wußte ich nicht, daß Rechnen nicht meine Stärke ist? Kopfrechnen, was für ein Wahnsinn! Ganze Lastwagen voller Erdäpfel im strömenden Regen allein und nur mit einer schweren Eisenschaufel ausgerüstet abladen? In das Magazin befördern? Und vom Magazin herauf und in den Keller hinunter die Schmalzkisten und die Kunsthonigkisten und die Zuckerschachteln? War ich der junge Mensch, der sich einem wildfremden Lehrherrn, der in seinem Gesicht auch die härteren Züge nicht verbergen hatte können, ausliefern konnte, bedingungslos? Die Roheit des Gehilfen, die Feindlichkeit des Lehrlings Karl, die ich im ersten Augenblick zu bemerken glaubte, werde ich mich da durchsetzen können? Bei allen diesen Leuten, die mir rücksichtslos und gemein vorgekommen sind bei ihrem Eintreten im Geschäft, und wie sie sich im Geschäft aufführten? Alle Aufgaben hatte ich lösen können, und in der kürzesten Zeit hatten sich alle Schwierigkeiten als durchaus zu meistern herausgestellt. Ich hatte das große Los gezogen. In diesem Bewußtsein bin ich, überrascht von meinen körperlichen und geistigen Fähigkeiten, mit dem größten Schwung in die Lehre hineingegangen. Es hat sich bezahlt gemacht. Das Krämermilieu war mir nicht neu, die Schwester meines Großvaters mütterlicherseits, Rosina, hatte im Hause ihrer Eltern in Henndorf eine sogenannte Gemischtwarenhandlung, und es gehörte zu den Höhepunkten meiner Kindheit, in der Gemischtwarenhandlung meiner Tante dabei zu sein, wenn sie bediente. Es gab noch Zuckerhüte in blaues Packpapier eingewickelt, es war die Zeit der Ruderleibchen und Petroleumlampen, die Zeit vor achtunddreißig. Drei, vier, fünf Jahre alt und wie alle Kinder in die Süßigkeiten vernarrt und wie alle Kinder mit der raffiniertesten Beobachtungsgabe ausgestattet, war mir der Lieblingsaufenthalt in Henndorf immer der Gemischtwarenladen meiner Tante gewesen, die zu diesem Geschäft auch noch ein größeres Gasthaus und eine kleine Landwirtschaft führte. Diesen Besitz hatte mein Großvater nach dem Selbstmord seines älteren Bruders, der auf dem sogenannten Zifanken ein herrschaftlicher Revierförster gewesen war, als Erbe nicht angenommen und, weil er in die deutschen Großstädte und keinen hinderlichen Besitz haben wollte, seiner Schwester Rosina überlassen. Von dem Bruder meines Großvaters, dem Revierförster, von welchem ich mehrere Fotografien habe, ist mir von meinem Großvater überliefert, daß er sich auf der höchsten Erhebung des Zifanken mit seinem Gewehr erschossen und an der Selbstmordstelle einen Zettel hinterlassen hat, auf den er sozusagen als Begründung seines eigenhändigen Lebensabschlusses geschrieben hatte, daß er sich erschieße, weil er
das Unglück der Menschen nicht mehr ertragen
könne. Meine Tante Rosina wußte, womit sie mich fesseln konnte, indem sie mich in ihrem Laden gewähren und also immer wieder Schubladen auf- und zumachen, Flaschen in das Magazin hinaus- oder vom Magazin in den Laden hereintragen und, sozusagen als Höhepunkt, Kleinigkeiten an Kunden verkaufen ließ. Aus dieser Zeit habe ich eine Vorliebe für das Kaufmannsgeschäft. Aber der Keller des Karl Podlaha hatte mit dem Gemischtwarenladen meiner Tante nichts mehr zu tun, die Gerüche in ihm waren andere, nicht mehr der typische Geruch der Gemischt- und
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