Die Babysammlerin (Contoli-Heinzgen-Krimi)
Leon!“
Leichte Zuckungen durchfuhren Anke und erweckten sie wieder zum Leben.
„Wie, wie ist das möglich?“, stammelte sie tonlos. Ihr Gehirn war völlig leer, sonst hätte sie so eine dumme Frage nicht gestellt. Ihre Grenzen waren erreicht. Das heute war zu viel gewesen. Ein innerlicher Ruck ging durch ihren Körper. Sie war zurück. Fast gleichzeitig rannten sie beide los, nahmen zwei Stufen auf einmal herunter, und so schnell hatte sie Wolf noch nie den rostigen Schlüssel der Hintertür umdrehen sehen. Auch diesmal vernahm Anke das unangenehme Quietschen. Sie lief vorweg über den kniehohen Rasen. Ging unter dem Apfelbaum auf die Knie und fühlte Leons Halsschlagader.
„ Er lebt noch“, stelle sie heiser fest.
Auch Leon war wie Dr. Baur nackt und auf seiner Brust ein aus Blut angedeutetes umgekehrtes Pentagramm geritzt. Mit dünnen Seilen war sein Körper mit dem Baumstamm verschlungen. Seine Beine zeigten gen Himmel. Sein Kopf berührte knapp den Boden.
„Notarzt, mein Handy.“
Anke rannte ins Haus zurück.
„Ruf vom Büro an“, rief Wolf ihr nach. Er schickte sich an, das Seil zu lösen, doch der Knoten zeigte sich widerspenstig.
„ Ein Messer!“, schrie er, als Anke wieder in der Tür erschien. Wie der Wirbelwind drehte sie sich um, rannte erneut zurück und erschien Sekunden später mit einem Fleischermesser. Während Wolf das Seil durchschnitt, hielt Anke Leons Kopf. Verzweifelt schlug sie ihm sanft auf die Wangen.
„ Leon, wach auf! Du schaffst es!“
Vorsichtig ließen sie ihn auf im hohen Gras nieder. Sein Körper war über und über mit blutigen Striemen gezeichnet.
„Hauff, ich habe Hauff vergessen.“
Geistesgegenwärtig hatte Anke ihr Handy aus ihrem Lederbeutel in die Hosentasche gesteckt. Zittrig drückte sie nun Hauffs abgespeicherte Nummer. Ob er überhaupt schon zu Hause war? Als sie Leons Haus nach dem Babyfund verlassen hatten, war er mit seinen Leuten noch dort geblieben. Nach für Ankes Empfinden endlosem Klingeln meldete er sich mit müder und heiserer Stimme. Mit knappen Worten schilderte sie ihm den Vorfall und er versprach, sofort zu kommen. Wolf war ins Haus gelaufen und kam mit einer Decke zurück. Vorsichtig breitete er sie über Leon aus.
„Himmel“, klagte Anke, „wann kommen die denn endlich?! Der stirbt uns noch weg.“
„ Ein Wunder, dass er überhaupt noch lebt. Das wird den Brüdern nicht passen, wenn sie es erfahren.“
Sie konnte ihre Verzweiflung nicht mehr verbergen, sich selbst nicht mehr zurückhalten. Heftig schluchzend tätschelte sie Leons Wangen in der Hoffnung, er würde die Augen aufschlagen. Endlich drang von der Straße her das Martinshorn. Wolf rannte vor zur Haustür. Wenige Minuten später führte er nicht die Männer vom Notdienst, sondern Hauff mit weiteren Beamten in den Garten an den grauenhaften Fundort unter dem dickstämmigen Apfelbaum. Kaum hatten sie den Garten betreten, erklang erneut das Martinshorn. Wieder eilte Wolf vor und erschien nun endlich mit den Leuten, die Leon retten konnten. Kurz darauf war der Garten hell erleuchtet. Die Spurensicherung startete ihre Arbeit. Fotos wurden geschossen und der Fundort mit roten Bändern abgesichert. In den Nachbarhäusern lagen die Bewohner in Fenstern und starrten auf das Schauspiel.
Anke saß auf dem Boden. Gedankenschwer versunken dachte sie gar nicht mehr an ihren Artikel, auf den sie vor weniger als eine halbe Stunde ganz versessen war und sogar auf ihren Schlaf verzichten wollte. Benommen sah sie zu, wie Leon medizinisch versorgt, vorsichtig auf eine Trage gelegt und mit eiligen Schritten durch den Flur auf die Straßenseite des Hauses zum Notarztwagen getragen wurde. Wolf lief vor ihr hin und her, wie er es immer tat, wenn er nachdachte, nervös war und sich konzentrieren wollte. Gewissenhaft beantworteten sie Hauffs Fragen.
„ Und nun müssen wir diese Carla finden“, schloss Hauff.
„ Cara“, verbesserte Anke, und dachte, wenn wir sie finden wollen, müssen wir uns auf den Weg machen in ihre Welt.
Was für eine Nacht, überlegte sie. Mittlerweile war es fünf Uhr früh. Anke genierte sich nicht, lauthals zu gähnen. Die Anspannung als auch die Müdigkeit stand allen ins Gesicht geschrieben. Dennoch, wusste Anke, würde das Himmelbett weiterhin unbenutzt bleiben. Hauff schien keine Gnade zu kennen. Sie wechselte einen kurzen Blick mit Wolf, der wohl ähnlich dachte. Mürrisch sah sie zu, wie Hauff kurzerhand per Handy den Phantomzeichner auf sechs Uhr
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