Die Bärenkralle: Thriller (German Edition)
wir uns hier niederlassen, auf die Jagd gehen und von dem leben, was die Natur bereithält. So wie mein Vater es getan hat. Dann könnte uns die Welt den Buckel runterrutschen.
Dem Brief war ein Foto beigelegt. Axel betrachtete es im Licht der Schreibtischlampe. Es war dasselbe Foto, das er in ihrer Küche entdeckt hatte. Doch dieses war nicht in der Mitte durchgeschnitten. Sie stand vor der braungestrichenen Holzwand. Und jetzt konnte er auch denjenigen erkennen, der ihr den Arm um die Schultern gelegt hatte. Er war zwanzig, dreißig Zentimeter größer als sie. Seine Gesichtszüge verrieten, dass er mongoloid war. Vor ihnen auf dem Fußboden war der Schatten eines Kopfes und einer Hand zu erkennen. Es war der Schatten dessen, der das Foto gemacht hatte. Auf der Rückseite stand geschrieben: »Oswald kann es nicht mit Worten ausdrücken, aber er hat dich auch sehr gern.«
Axel riss den Brief aus dem Umschlag, dessen Poststempel vier Wochen älter als der des letzten Briefes war.
Ich zähle die Tage, bis du kommst. Freue mich darauf, dir alles zu zeigen, was zu mir gehört. Ich kenne einen schönen Badeplatz, den wir garantiert für uns allein haben. Es ist ein Weiher, der ganz in der Nähe liegt. Nahe der Grenze gibt es eine Bärenhöhle, die ich dir zeigen werde, wenn du da bist. Vielleicht sehen wir sogar die Bärenmutter. Habe erst kürzlich die Spuren einer Bärin und zweier Jungen entdeckt. Du sagst ja, dass etwas von einem Bären in mir steckt. Auch in dir, finde ich. Ich habe das Auto repariert und werde dich wie verabredet vom Bahnhof abholen. Aber auf die alte Karre ist kein Verlass. Wenn sie auf dem Forstweg zusammenbricht, musst du den Bus nach Åmoen nehmen. Die Hütte liegt fast zehn Kilometer weiter nördlich und so tief im Wald versteckt, dass du nicht versuchen solltest, sie auf eigene Faust zu finden. Du kannst einfach einen der Männer von der Esso-Tankstelle bitten, dich hierherzufahren. Seit meiner Jugend habe ich dort in den Ferien immer gejobbt. Frag am besten nach Roger Åheim und grüß ihn von mir.
Axel las die letzten Zeilen noch einmal. Sie ist in der Hütte, schoss es ihm durch den Kopf. Und im selben Moment: Ich weiß, wie ich sie finden kann.
Es war fünf Minuten nach Mitternacht. Nachdem er es sieben Mal hatte läuten lassen, begann er zu zweifeln, ob überhaupt jemand an den Apparat gehen würde. Nach weiteren zehn Freizeichen wollte er schon aufgeben, als er am anderen Ende ein müdes Grunzen wahrnahm.
»Hallo Tom? Hier ist Papa!«
Er erhielt keine Antwort, aber hörte den Atem seines Sohnes. Sah Tom vor sich, wie er in T-Shirt und Boxershorts im Dunkeln in seinem Zimmer stand und die Situation zu erfassen versuchte.
»Papa«, murmelte er, »was ist …«
Wahrscheinlich hingen ihm seine Haare in die Augen, und sicher fror er – bleich und mager, wie er war. Wann hatte er zuletzt den Drang verspürt, seinen Sohn zu umarmen? Ihn an sich zu drücken und festzuhalten, damit er ihm nicht entglitt?
»Was willst du?«
Seine Stimme klang abweisend. Der Junge hatte seine Fassung wiedergewonnen.
»Tom … ich weiß, dass du tausend Fragen an mich hast. Bald werde ich sie dir alle beantworten. Zumindest soweit ich dazu in der Lage bin. Aber jetzt brauche ich erst mal deine Hilfe, und zwar schnell. Hast du mich verstanden, Tom?«
Ein unwilliges Brummen in der Leitung.
»Du kennst doch die alten Karten von Großvater, die auf dem Dachboden liegen, die wir mit Daniel zusammen angeguckt haben.«
»Die aus dem Krieg?«
»Ja, genau die. Du musst auf den Dachboden gehen und sie herunterholen.«
»Jetzt gleich?«
»Ja, beeil dich!«
»Was willst du damit?«
Axel sagte, so ruhig er konnte:
»Eine Frau wird vermisst. Ich muss sie finden, bevor es zu spät ist.«
»Willst du dich von Mama scheiden lassen?«
»Bitte tue, was ich dir sage!«, flehte er und kniff sich hart in die Wange. »Öffne den Schrank, der hinter den Koffern und den Kisten mit der Winterkleidung steht. Nimm das Telefon mit. Weck niemand auf.«
Er hörte, wie Tom die Zimmertür öffnete und sich durch das Haus bewegte. Er stellte sich vor, wie er ihn durch sein Elternhaus begleitete. Nahm den Geruch von Küche, Bad und Toilette wahr, von ungewaschenen Kleidern, Seife, Parfüm, Brot und den Resten des Mittagessens. Und die Gerüche vom Haus, die sich an den Wänden abgelagert hatten und die Geschichte seines Lebens in sich trugen. In den Zimmern schliefen die Menschen, die ihm am meisten bedeuteten und
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