Die Bärenkralle: Thriller (German Edition)
fragen sollen, was sie dort getan hatte. Doch er wollte von ihrer Vergangenheit nichts wissen, von den Männern, die sie vor ihm gehabt hatte. Und diese Geschichte hatte sicher mit einem Mann zu tun. Alles, was sie miteinander verband, befand sich gewissermaßen auf einer winzigen Insel in der Gegenwart. Doch diese Insel konnte jederzeit von der Vergangenheit oder der Zukunft überspült werden. Aber er selbst wollte von seiner eigenen Vergangenheit Zeugnis ablegen. Wollte er sie ausnutzen? In Gedanken sah er sie vor sich. Ihren Blick, wenn sie zuhörte. Sie nahm alles ruhig in sich auf und verwahrte es gut, ohne etwas ändern zu wollen.
Der nächste Brief, den er öffnete, war über zwei Jahre alt.
Du bist damals gegangen, weil du angeblich Bedenkzeit brauchtest, doch jetzt ist über ein Jahr vergangen, und ich glaube, du hast mich angelogen. Und es ist nicht besonders klug, mich anzulügen. Ich weiß, dass du es schrecklich fandst, da unten im Keller zu sitzen, aber ich wusste nicht, was ich tat. Wenn du zu mir zurückkommst, wirst du sehen, dass ich mich geändert habe. Du hast mir nicht geglaubt, als ich dir sagte, dass du die erste Frau für mich warst. Dabei hätte ich genug Frauen haben können. Es gab so viele Gelegenheiten, aber ich wollte nicht. Nach der ersten Nacht in Sandane, als wir am Fjord entlangspazierten, da habe ich dir gesagt, dass ich nur dich haben will und niemand sonst. Du warst sehr glücklich darüber. Hast mir gesagt, dass du auch keinen anderen haben willst als mich. Du hast noch mehr gesagt. Zum Beispiel, dass du mich nie verlassen würdest. Dass wir verwandte Seelen sind, typisches Frauengeschwätz eben. Dass du gerne mit mir schläfst. Dass ich der Beste sei, den du je gehabt hättest. Es ist nicht schlimmer zu töten, als jemand etwas zu geben und sofort wieder wegzunehmen.
Datiert vom neunzehnten August letzten Jahres:
Ich weiß, dass du mich heute gesehen hast. Du bist direkt an meinem Auto vorbeigegangen. Aber du hast so getan, als hättest du mich nicht bemerkt, und bist mit deiner Freundin über die Straße gegangen. Ihr habt die Straßenbahn zum Stortinget genommen und habt euch ins Alexis gesetzt. Nach einer Stunde bist du nach Hause gegangen. Bis zehn nach elf brannte noch Licht bei dir. Dann war alles dunkel. Dann hast du geschlafen oder hast wach gelegen und nachgedacht. Die ganze Woche hatte ich mir freigenommen, und es gab nicht eine Sekunde, in der ich nicht wusste, was du tust und wo du dich aufhältst.
9. Juni:
Falls du bereit wärst, alles zu vergessen, was zwischen uns vorgefallen ist, habe ich mir Folgendes überlegt. Ich verkaufe die Hütte, nehme einen Kredit auf und kaufe eine größere Wohnung in der Stadt. Eine, die groß genug für zwei ist. Sei so gut und vergiss alles, was gewesen ist. Ich habe mich lächerlich gemacht und Lehrgeld bezahlt.
Er ging das Bündel der Briefe von vorne nach hinten durch. Bekam Einblicke in ein Verhältnis, von dem er nichts wissen wollte. Möglicherweise würde er irgendwelche Anhaltspunkte darüber finden, was mit ihr passiert war. Und plötzlich schoss ihm durch den Kopf, dass es in diesen Briefen auch Hinweise auf ihren Aufenthaltsort geben könnte. Er erinnerte sich daran, dass Miriam etwas von einer Hütte erzählt hatte. Sicher dieselbe Hütte, die in den Briefen erwähnt wurde. Ein Keller, der während des Krieges als Versteck genutzt worden war. Der Besitzer der Hütte war ein Fluchthelfer gewesen, hatte sie ihm erzählt, der Großvater eines Bekannten.
Die älteren Briefe waren mit ungelenker Handschrift verfasst worden. Auch der Ton in ihnen war vollkommen anders. Drohungen suchte man hier vergeblich. Sie stammten vermutlich aus der Zeit, bevor ihre Beziehung zu Bruch ging. Er öffnete einen Umschlag, der am sechzehnten Juli vor fünf Jahren abgestempelt worden war:
Ich sitze immer noch auf der Treppe, schaue auf den Pfad und betrachte den Ring, den ich von dir bekommen habe, unseren Verlobungsring. Ich stelle mir vor, wie es wäre, wenn du am Wochenende freihättest und plötzlich hier auftauchen würdest. Überraschung! Du magst es doch, mich zu überraschen. Über das, was du gewollt hast in der Nacht, bevor du fortmusstest, war ich völlig überrascht …
Mit mulmigem Gefühl las er weiter.
Ich wusste, dass es dir hier im Wald gefallen würde. Es ist die schönste Hütte in ganz Hedmark. Hier könnten wir Monate und Jahre verbringen, ohne von irgendjemand gestört zu werden. Vielleicht sollten
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