Die Bärenkralle: Thriller (German Edition)
Fähre, die nach Nesodden fuhr. Auf dem nächsten Bild stieg er gerade aus dem Wagen. Das letzte Foto war in einem dunklen Raum aufgenommen worden. Er erkannte die Umrisse seines eigenen Gesichts in einem Bett. Neben ihm lag Miriam, ihre Haare flossen über das Kopfkissen. Er schleuderte die Fotos auf den Tisch.
Nahe des Kamins erblickte er zwei Türen. Hinter der ersten befand sich ein Schlafzimmer mit einem Stockbett. Der Schrank in der Ecke war voller Wolldecken.
Die zweite Tür war verschlossen. Vor der Schwelle lag etwas auf dem Boden. Ein weißes T-Shirt. Er breitete es aus und erkannte es sofort wieder. Es war Miriams weißes Shirt mit den rosa Glitzerbuchstaben, doch jetzt war es von einer Vielzahl getrockneter, gelblicher Flecken verunstaltet. Plötzlich warf er sich mit voller Wucht gegen die verschlossene Tür. Ohne Erfolg.
»Miriam!«, rief er durch den Spalt. Hielt sein Ohr daran und lauschte. Totenstille.
Er zog sein Handy aus der Tasche und wählte erneut Norbakks Nummer. In diesem Moment begann es in der Küche zu klingeln. Er nahm das Holzscheit, das auf dem Tisch lag, und bewegte sich auf Zehenspitzen – von einer plötzlichen Ahnung erfüllt, für die er noch keine Worte fand. Etwas geschah hinter ihm. Wie eine Welle kam es auf ihn zu. Dann stürzte sie auf ihn ein und verwandelte die drückende Finsternis in ein gleißendes Lichtermeer.
61
N ina Jebsen schloss die Tür zu ihrem Büro auf. Es war erst Viertel vor sieben. Sie hatte schlecht geschlafen und war früh aufgewacht. Nachdem sie sich über eine Stunde lang hin- und hergewälzt hatte, war sie aufgestanden, um die Zeit anderweitig zu nutzen.
Sie spuckte den ersten Nikotinkaugummi des Tages aus. Da der Papierkorb nicht geleert worden war, klebten an der Mülltüte noch die Kaugummis der letzten Tage. Sie gab ihr Passwort ein.
»Auf ein Neues«, murmelte sie resigniert.
Nachdem die Anklage gegen Glenne fallengelassen worden war, musste sie ein weiteres Mal alle Zeugenvernehmungen und Dokumente durchgehen. Das erinnerte sie an das Kletterspiel, das sie als Kind mit ihren Freundinnen gespielt hatte. Wer kurz vor dem Ziel ins Stolpern kam und hinunterrutschte, musste wieder von vorne anfangen. Sie wollte lieber nicht daran denken, wie viele tausend Seiten sie in diesem Fall schon zusammengetragen hatten. Stattdessen kam ihr wieder der gestrige Cafébesuch in den Sinn. Die Erinnerung daran war es auch gewesen, die sie in der Nacht wach gehalten hatte.
»Mach’s gut, Arve«, hatte sie gesagt, als sie später vor der Garage des Präsidiums standen. Es klang mehr nach einer Einladung als nach einem Abschiedsgruß. Er kam auf sie zu und strich ihr mit seinem Handrücken über die Wange. Zwei Mal tat er das, während er ihr in die Augen sah, und für einen Augenblick dachte sie, jetzt geschieht es.
»Bis dann«, entgegnete er, machte auf dem Absatz kehrt und ließ sie, vor Verlangen glühend, stehen. Doch ein paar Meter weiter hatte er sich noch einmal umgedreht und gesagt, sie könnten die nächsten Tage ja mal was trinken gehen.
Nina nahm einen Stift und schrieb Arve auf ihren Notizblock. Sie betrachtete seinen Namen. Er passte zu ihrer Handschrift. Sie öffnete eine Packung Snus und klickte auf den Namen Miriam Gaizauskas. Musste wieder an die Altersabstufungen der Opfer denken. Paulsen sechsundfünfzig, Davidsen sechsundvierzig, Elvestrand sechsunddreißig. Vor drei Monaten war Miriam sechsundzwanzig geworden. Es grummelte in ihrem Magen. Sie hatte nicht gefrühstückt. In ihrer Schreibtischschublade fand sie einen Apfel und biss in die zähe Schale. Innen war er mehlig, aber was machte das schon … In diesem Moment fiel ihr noch etwas auf. Das erste Opfer war in einem Waldstück nördlich von Oslo gefunden worden, das zweite im städtischen Frognerpark, das dritte unmittelbar vor Miriams Haustür. Am Türrahmen hatten sich Kratzspuren befunden. Als käme der Täter immer näher. Sie beschäftigte sich noch einmal mit Arves Bericht und bemerkte lächelnd, dass der Fehler, auf den sie ihn aufmerksam gemacht hatte, verschwunden war.
Sie schloss die Datei und ging ein weiteres Mal die Titel aller Dokumente durch. Dabei hatte sie das vage Gefühl, irgendetwas übersehen zu haben, über eine wichtige Information achtlos hinweggegangen zu sein. Aufs Geratewohl öffnete sie den Bericht über ihren Besuch in Reinkollen. Als sie Schritte auf dem Flur hörte, spuckte sie den Tabak aus und schob den unappetitlichen Papierkorb ein Stück
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