Die Bärenkralle: Thriller (German Edition)
ein wenig zu lachen.
Sie schenkte ihm ein Glas Milch ein. Er leerte es in einem Zug. Sie schenkte ihm nach und schmierte ihm ein paar Brotscheiben, über die er sich mit gewaltigem Appetit hermachte.
»Oswald und ich sind alte Kameraden, nicht wahr, Oswald?«
»Alte Kameraden«, wiederholte Oswald, während ihm Brot und Leberwurst aus dem Mund quollen.
Als er mit dem Essen fertig war, nahm sie seine Hand und führte ihn auf sein Zimmer.
»Jetzt legst du dich ein bisschen hin und ruhst dich aus, Oswald. Das wirst du nötig haben, nachdem du die ganze Nacht auf den Beinen warst.«
»Ich kenne Oswald, seit er sieben, acht Jahre alt ist«, erklärte Ingeborg, als sie gemeinsam am Wohnzimmertisch saßen. »Mein Gott, wie sehr mir diese Jungs leidgetan haben.«
Signy nippte an ihrem Kaffee.
»Åse Berit hat mir erzählt, dass ihn sein Vater als Kind in den Keller gesperrt hat. Ist das wirklich wahr?«
Ingeborg nickte bedächtig und starrte vor sich hin. Tora war in ihrem Rollstuhl eingeschlafen. Ihr Kopf war ihr auf die Brust gesunken, aus ihren Mundwinkeln lief der Speichel. Ingeborg stand auf, tupfte ihr Gesicht ab und schob ihr ein Kissen unter das knochige Kinn.
»Ja, das stimmt«, antwortete sie. »Ich habe damals bei der Jugendfürsorge gearbeitet. Das war eine schreckliche Angelegenheit.«
»Aber der Vater muss ja total verrückt gewesen sein. Hat euch denn niemand verständigt?«
Ingeborg warf Signy einen düsteren Blick zu.
»Das ist es, was mir am meisten zu schaffen macht. Dass wir so lange tatenlos zugesehen haben. Wir hatten schließlich mehrere Hinweise bekommen, dass es bei den Norbakks drunter und drüber ging, doch erst als jemand aus der Familie anrief und sagte, dass wir sofort etwas unternehmen müssten …«
Sie biss sich auf die Unterlippe, die nur ein blasser Strich war.
»Das ist jetzt über zwanzig Jahre her, aber diesen Anblick werde ich nie vergessen. Niemals.«
»Was ist denn geschehen?«
Für eine Weile blieb Ingeborg reglos sitzen und hielt die Augen geschlossen. Ihre Lider schienen Signy dünner als Seidenpapier zu sein. Sie schien regelrecht durch sie hindurchzusehen.
»Wir sind also zu dieser Hütte im Wald gefahren«, fuhr Ingeborg schließlich fort und öffnete die Augen, die ganz blank geworden waren. »Es war ein unbeschreiblicher Anblick. Überall lagen Flaschen, schmutzige Kleider und Teller herum. Der Wind pfiff durch ein kaputtes Fenster, und es war eiskalt. Zunächst konnten wir die Jungs nirgends finden, bis wir schließlich in den Keller kamen. Sie waren eingesperrt, alle beide. Arve hatte die Arme um Oswald geschlungen, damit er nicht fror.«
»Arve?«, fragte Signy erstaunt.
Ingeborg zog ein Taschentuch hervor und schneuzte sich.
»Das ist der große Bruder von Oswald. Sie waren mehrere Tage lang eingesperrt gewesen. Der Vater hatte ihnen eine Flasche Wasser dagelassen und ein paar Kanten Brot hingeschmissen, bevor er verschwand.«
»Dann habt ihr natürlich etwas unternommen.«
»Ja. Arve ist dann bei seinen Pflegeeltern in Lillestrøm aufgewachsen, während Oswald in ein Heim kam. Heute hat er es besser als je zuvor. Aber dass wir so lange gewartet haben … Der Vater wurde wegen Kindesmisshandlung verurteilt und saß ein paar Monate hinter Gittern. Dann lebte er eine Zeitlang wie ein Tier in seiner Waldhütte. Schließlich hat er sich zu Tode gesoffen.«
Ingeborgs faltiges Gesicht leuchtete plötzlich auf.
»Aber aus Arve ist doch noch was geworden. Eigentlich unglaublich, wie gut er sich später entwickelt hat. Bevor er zu seinen Pflegeeltern kam, lebte er bei uns, und in all den Jahren habe ich seinen Werdegang verfolgt.«
Sie entblößte eine Reihe strahlend weißer Zähne, die vollkommen echt aussahen.
»Ein lieber und anständiger Kerl ist aus ihm geworden. Nur gegen seinen Vater durfte man nichts sagen, dann wurde er fuchsteufelswild und konnte völlig die Beherrschung verlieren. Er meinte immer, dass sein Vater noch leben würde, wenn sie ihn damals nicht ins Gefängnis gesteckt hätten. Er hat die Polizei mehr gehasst als alles andere. Abgesehen von seiner Mutter, die sie früh verlassen hatte. Eine Weile habe ich mir große Sorgen um ihn gemacht. Doch schließlich ist er zur Ruhe gekommen und hat nie wieder ein Wort über seine Eltern verloren.«
»Was für ein schreckliches Schicksal«, seufzte Signy.
Ingeborg schaute auf die Uhr.
»Ich glaube, wir sollten Oswald so langsam wecken. Sonst ist er wieder die ganze Nacht wach.«
Signy
Weitere Kostenlose Bücher