Die Bärenkralle: Thriller (German Edition)
Dunkeln konnte er ihn undeutlich erkennen, wie er schwer atmend unter der Decke lag, das Gesicht zur Wand gerichtet. Die Luft war stickig und roch nach Rauch. Axel nahm ein Hemd, das über der Stuhllehne hing, und roch daran. Er hatte schon mehrere Freunde von Tom hinter dem Ärztehaus auf dem Rasen sitzen und rauchen sehen, doch Tom hatte stets behauptet, »mit so was« nichts zu tun zu haben. Er öffnete das Fenster, blieb kurz vor dem Bett stehen und entschied sich, den Jungen schlafen zu lassen.
Stattdessen ging er auf den Dachboden. Hatte es schon viel zu lange aufgeschoben, dort oben mal wieder ein wenig aufzuräumen. Er sortierte ein paar Sportsachen aus, aus denen die Kinder herausgewachsen waren, sowie eine Reihe von Kleidungsstücken, die er nicht mehr brauchte, darunter einige Hemden und Anzüge, die er noch akzeptabel, Bie jedoch so altmodisch fand, dass sie ihm untersagt hatte, sie weiterhin zu tragen. Die Heilsarmee hatte Bies Sinn für Ästhetik im Laufe der Jahre schon viel zu verdanken gehabt.
Im hintersten Teil des Dachbodens, hinter leeren Koffern und mit Wintergarderobe gefüllten Kisten, stand ein alter Mahagonischrank. Der Schlüssel hing an einem Haken unter der Decke. Zum ersten Mal seit Jahren öffnete er die Türen. In den oberen beiden Fächern bewahrte er die wenigen Dinge auf, die er von seinem Vater geerbt hatte. Eine Uniformmütze. Militärutensilien. Zwei Pistolen, eine davon war im Spanischen Bürgerkrieg zum Einsatz gekommen, während die andere, eine Luger, von deutschen Besatzern stammte, die man in den letzten Tagen vor der Kapitulation entwaffnet hatte. In einer Schachtel lagen zahlreiche Briefe, die Torstein Glenne von Freunden bekommen hatte, die im Konzentrationslager Grini inhaftiert waren. Immer wieder hatte er sie Axel vorgelesen. Manchmal auch Brede, aber in erster Linie Axel, damit er lernte, »dass Freiheit ihren Preis hat«. Dann gab es da noch die Karten.
Wenn Oberst Glenne an Sommerabenden vor dem Kamin draußen auf der Terrasse saß, Whisky trank und Salzstangen knabberte, ließ er sich manchmal dazu überreden, auf den Dachboden zu gehen und diese Karten zu holen, auf denen geheime Routen und Verstecke aus der Besatzungszeit eingezeichnet waren.
»Das sollte ich euch Jungs eigentlich gar nicht zeigen«, brummte er dann, obwohl es schon fünfundzwanzig Jahre her war, dass die Deutschen kapituliert hatten. »Sonst verrate ich euch noch Dinge, deren Geheimhaltung ich bei meinem Leben geschworen habe.« Dennoch beschrieb er ihnen ganz genau die Lage gewisser Hütten im Grenzgebiet. Dort hatten sie sich nach ihren Aktionen versteckt gehalten – nachdem sie Fabriken in die Luft gesprengt, wichtige Telefonverbindungen gekappt und Flüchtlingen über die Grenze geholfen hatten. Es waren ebenso jüdische Kinder gewesen wie enttarnte Widerstandskämpfer oder sogar Leute, die aus Panik vor den Deutschen flüchten wollten, obwohl sie gar nicht verfolgt wurden. Der Vater machte für jeden heimlichen Treffpunkt ein Kreuz auf der Karte, markierte die Fluchtrouten durch gestrichelte Linien und kreiste Verstecke und Kommunikationszentralen ein. Anschließend spielten Axel und Brede, dass sie Flüchtlinge oder Fluchthelfer, meist aber Widerstandskämpfer waren, die lebensgefährliche Sabotageaktionen durchführten. Sie hielten die Blücher im Drøbaksund auf und trieben die Bismarck und die Tirpitz in enge Fjorde hinein. Und vor allem sprengten sie die Fabrik in Vemork in die Luft, die schweres Wasser produzierte. Quasi im letzten Augenblick gelang es ihnen, die Lunte anzuzünden.
Hitler benötigte zur Herstellung seiner Atombombe nur noch wenige Liter dieses Wassers, doch die Brüder Glenne machten ihm einen Strich durch die Rechnung. Hitler schäumte vor Wut und schickte die gefährlichsten SS-Soldaten nach Norwegen, um die Brüder zu fangen. Aber die Zwillingsbrüder flüchteten sich in die Wälder und versteckten sich in den Hütten, von denen ihr Vater erzählt hatte. Sie schlichen von einer zur anderen, während ihnen die Hundepatrouillen auf den Fersen waren. Sie hörten Hundegebell und gebrüllte Kommandos in Deutsch – der scheußlichsten aller Sprachen. Sollte einer von ihnen geschnappt werden, würde der andere entkommen, denn sie hatten sich geschworen, lieber zu sterben, als den Bruder zu verraten.
Brede war nach diesen Spielen so aufgewühlt, dass er manchmal die ganze Nacht wach lag und Axel schließlich weckte, um ihren Pakt zu bekräftigen: Ich werde dich
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