Die Bärenkralle: Thriller (German Edition)
über den Weg laufen. Es geht um eine Überweisung, die Sie mir vor ein paar Tagen geschickt haben. Ein älterer Herr mit postoperativen Rückenschmerzen.«
Die Physiotherapeutin! Sie arbeitete im Therapiezentrum in Majorstua. Ihr Name lag ihm auf der Zunge. Bie war früher schon mal in Behandlung bei ihr gewesen.
»Ich bezweifle, dass ich viel für ihn tun kann, solange er so starke Schmerzen hat. Aber das besprechen wir lieber ein anderes Mal.«
Er protestierte nicht. Aus der niedrigen Wolkendecke begann es zu tröpfeln, und bald würde die Dämmerung einsetzen. Nicht alle Frauen trauen sich im Dunkeln hierher, dachte er. Bie ging nicht mal am Tag gern allein in den Wald.
»Kommen Sie gut nach Hause«, meinte sie fröhlich und runzelte mitfühlend die Stirn, während sie mit einem Stock auf sein plattes Hinterrad zeigte.
10
Freitag, 28. September
D er Abend war kühl geworden, doch Axel blieb bei angelehnter Tür auf der Terrasse sitzen. Er hatte ein Feuer im Kamin entfacht und einen Pullover angezogen. Es war kurz nach elf. Gerade eben war er bei Marlen im Zimmer gewesen, die aufgewacht war und nach ihm gerufen hatte. Die toten Zwillinge hatten sie im Traum verfolgt. Bevor sie sich hingelegt hatte, war sie zu ihm auf die Terrasse gekommen. Während sie gemeinsam den Sternenhimmel betrachteten, hatte er ihr von der äthiopischen Königin Kassiopeia erzählt. Und da Marlen nicht ins Bett gehen wollte, ohne eine weitere Geschichte gehört zu haben, hatte er sich für die Zwillinge Castor und Pollux entschieden, deren Mut und Stärke so außerordentlich war. Niemand konnte Castor das Wasser reichen, was das Reiten und Zähmen von Pferden anging, während Pollux im Faustkampf unbezwingbar war. Doch vor allem waren sie dafür bekannt, einander treu ergeben zu sein. Ihre Bruderliebe war unvergleichlich, und nichts konnte sie je auseinanderbringen – nur der Tod. Denn unglücklicherweise war Pollux der Sohn des Zeus und damit unsterblich, während Castor einen menschlichen König zum Vater hatte.
»Aber wie können sie dann Zwillinge sein«, fragte Marlen skeptisch, »wenn sie verschiedene Väter haben?«
»In der Welt der Mythologie ist so etwas möglich«, antwortete ihr Vater lächelnd. Doch als Castor im Kampf getötet wurde, musste er in das Totenreich hinabsteigen. Pollux flehte seinen Vater Zeus an, ihn ebenfalls sterben zu lassen, damit er mit seinem geliebten Bruder wieder vereint sein würde. Aber selbst Zeus war nicht mächtig genug, um diese Bitte zu erfüllen. An Pollux’ Unsterblichkeit konnte er nichts ändern. Aber schließlich kam ihm eine Idee: An jedem zweiten Tag durfte Pollux in das Totenreich hinabsteigen, um seinen Zwillingsbruder zu besuchen, und an den anderen Tagen waren sie im Himmel vereint.
Axel hatte diese Geschichte auch seinen Söhnen erzählt, keiner von ihnen hatte allerdings Alpträume davon bekommen. Damit Marlen wieder einschlafen konnte, musste er zunächst den toten der beiden Zwillinge verscheuchen. Er wickelte sie so eng in ihre Decke ein, dass sie wie von einem Kokon umhüllt wurde, und versicherte ihr, dass sie so vollkommen geschützt und unangreifbar war. Außerdem seien da noch Mikk, der Löwe, und Geiki, das Schaf, die neben ihrem Bett Wache hielten. All das hatte offenbar geholfen, denn nun war es still.
Bevor er auf die Terrasse zurückkehrte, war Axel die Treppe hinuntergegangen, um ein paar Worte mit Tom zu wechseln. Er blieb vor seiner Tür stehen und lauschte der dünnen Stimme, die aus dem Zimmer drang. Der Song kam ihm bekannt vor, auch wenn er bisher immer nur Bruchstücke davon mitbekommen hatte: »And I’m bleeding, and I’m bleeding, and I’m bleeding right before the Lord.« Tom hatte den Verstärker ausgestellt, weil Marlen schlafen wollte. Seine Stimme hörte sich zu den kaum hörbaren Gitarrenakkorden noch dünner an als sonst.
Axel war nicht zu ihm hineingegangen, sondern hatte sich wieder die Treppe hinaufgeschlichen und eine Flasche Kognak sowie ein Glas mit hinaus in die Dunkelheit genommen. Gleich darauf hatte Tom in der Tür gestanden und gefragt, ob er bei seinem Freund Findus, mit dem er eine Band gründen wollte, übernachten könne. Nach kurzem Zögern erklärte Axel sich einverstanden. Es war sicherlich besser für Tom, die Zeit mit einem Freund zu verbringen, als den ganzen Abend allein auf seinem Zimmer zu hocken. Nach dem Essen hatte er ihn schon fragen wollen, ob sie etwas gemeinsam unternehmen sollten, doch hatte er damit
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