Die Bärenkralle: Thriller (German Edition)
ich mich selbst wieder von ihnen befreien kann.«
»Wie soll das gehen, wenn Sie erst mal Ärztin sind? Da können Sie sich nicht alles so zu Herzen nehmen.«
Sie blies in ihren Kaffee und nippte daran.
»Ich muss lernen, damit zu leben, gewisse Grenzen zu ziehen, aber darin bin ich schon besser geworden.«
»Ich werde Ihnen zumindest den Rest meiner Geschichte ersparen«, sagte er, stellte die Tasse ab und stand auf.
Er blieb vor dem Stuhl stehen, auf dem sie saß. Sie blickte auf. Ihr Gesicht wurde in das trübe Licht getaucht, das durch das Dachfenster fiel. Der leuchtend grüne Schimmer in ihren Augen war nicht zu erkennen. Zum ersten Mal ahnte er, dass hinter ihrer Ruhe noch etwas anderes verborgen lag. Hatte dies wohl schon bemerkt, als sie an diesem Morgen erschienen war … Er hatte ihr keine einzige Frage zu ihrem Leben gestellt. Wollte nichts von ihr wissen, das sie möglicherweise zu mehr als einer beliebigen Studentin machte, die bei ihm ein kurzes Praktikum absolvierte, ehe sie für immer aus seinem Leben verschwand. Er spürte, dass er allmählich die Kontrolle wiedergewann, und wollte sie nicht erneut verlieren. Dennoch fragte er:
»Ist etwas passiert?«
Sie wandte den Kopf ab.
»Ich muss Ihnen etwas gestehen«, sagte sie nach einer Weile. »Es war kein Zufall, dass ich einen Platz bei Ihnen im Ärztehaus bekommen habe. Ich habe mit einem anderen Studenten getauscht. Als Sie im Frühjahr die Vorlesungen bei uns hielten, bin ich jeden Tag in der Pause zu Ihnen gekommen. Ich habe viel an Sie gedacht und war naiv genug zu glauben, dass Sie auch an mich denken. Aber als ich am ersten Tag zu Ihnen in die Praxis kam, haben Sie mich nicht mal wiedererkannt.«
»Was wollten Sie von mir?«
»Mit Ihnen reden.«
»Reden?«
Er berührte ihre Schulter. Sie lehnte sich an ihn.
»Ich glaube, das war es, was ich wollte.«
Ihre Unterlippe war leicht vorgeschoben. Er beugte sich herab und küsste sie.
»Ich muss jetzt gehen.«
Er zog sie aus dem Stuhl. Ihre Hose war aus einem glatten Stoff und spannte sich eng über ihren Hüften. Seine Hand glitt über ihren Bund nach unten. Sie streckte sich und legte ihre Lippen an seinen Hals.
»Das darf nicht geschehen, Miriam.«
»Nein«, murmelte sie, »das darf nicht geschehen.«
13
P ater Raymond blieb nach dem Abendgebet in der Kirche. Er wollte noch eine Beichte abnehmen und ließ die Kerzen brennen. In der stillen Zeit des Wartens kam er zur Ruhe. Die Geräusche des Osloer Straßenverkehrs drangen von ferne an sein Ohr, als die Kirchentür sich öffnete. Er erkannte die Person sofort, die ihm auf dem Mittelgang entgegenkam.
»Das ist aber eine freudige Überraschung«, sagte er, und die junge Frau ergriff seine Hand, die er ihr entgegenstreckte.
»Ich werde Ihre Zeit nur kurz beanspruchen, Pater Raymond.«
Er machte eine abwehrende Handbewegung.
»Liebe Miriam, wenn du wüsstest, wie sehr ich mich freue, dich zu sehen. Das ist ja schon Monate her.«
Er führte sie in einen kleinen Raum, der sich neben der Sakristei befand, ließ sie auf der Bank neben der Tür Platz nehmen und setzte sich selbst auf einen Stuhl gegenüber.
»Ich habe so oft an dich gedacht«, sagte er. »Erst heute wieder …« Dann kam er darauf, dass es gestern Morgen gewesen war, als er sein Büro betreten hatte. Er hatte an sie denken müssen, als er den Schlüssel ins Schloss steckte. Dass er von ihr geträumt hatte, sagte er nicht. Stattdessen erkundigte er sich nach ihrem Studium. Miriam antwortete ausweichend, was ihn verwunderte, denn normalerweise erzählte sie immer ganz genau, womit sie gerade beschäftigt war.
Er schlug die Beine übereinander, lehnte sich zurück und betrachtete sie. Ihr Gesicht war es, das ihn am allermeisten faszinierte. Der Anblick eines hübschen Gesichts hatte ihn von jeher fasziniert. Wie guter Wein oder ein wohlformulierter Text. Aber das war es nicht allein. Miriams Gesicht erinnerte ihn an einen Gedanken, zu dem er immer wieder zurückkehrte. Er stammte von einem Philosophen, der ursprünglich sogar aus ihrem Heimatland stammte und mit dem er sich seit vielen Jahren befasste. Er hatte von den Spuren Gottes im Antlitz des anderen gesprochen.
»Ich habe jemand kennengelernt«, sagte sie.
Er antwortete nicht, sondern nickte nur, so dass sie sich gezwungen sah, etwas hinzuzufügen.
»Einen Mann.«
Das hatte er verstanden. Unmerklich rutschte er auf seinem Stuhl hin und her. Als könnte er damit alles, was ihn sonst noch beschäftigte, in
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