Die Bärenkralle: Thriller (German Edition)
ist?«
Ihre Haut roch immer noch nach dem Moorsee. Darin mischte sich der Geruch von Schweiß, feuchter Erde und dem Harz der Tannenzweige. Er zog ihr den Slip aus und spürte, dass er den Kopf schüttelte, als wäre das eine hinreichende Antwort. Plötzlich knackte ein Zweig über ihnen. Er drehte sich um und hob den Kopf. Meinte, undeutlich einen Schatten wahrnehmen zu können und zwischen den Zweigen ein Auge, das auf sie herabstarrte. Er zuckte zusammen, riss sich los und kroch zum Ausgang.
»Was ist los, Axel?«
Er sah nichts und lauschte. Einen Augenblick später beugte er sich über das Dach der Hütte. Zwischen den Zweigen befand sich ein feiner Riss in der Plastikplane, durch den er Miriam erkennen konnte.
»Willst du mich erschrecken?«
Ihre Stimme zitterte ein wenig. Und in diesem Moment sah er sich selbst, wie er nackt über das Versteck gebeugt mitten im Wald stand. Ihre Angst nahm er als Zeichen, streckte seinen Arm hinein und zog seine Kleider heraus.
»Kein Grund zur Sorge«, beruhigte er sie. »Wahrscheinlich nur ein Bär.«
Es nieselte, als sie zu ihren Fahrrädern zurückgingen. Sie griff nach seiner Hand. Wäre das Unausweichliche geschehen, dachte er, wäre es in der Hütte passiert, dann hätten sie es jetzt hinter sich. Jetzt war sie ihm nähergekommen.
»Habe ich dir eigentlich erzählt, dass ich einen Bruder habe?«, fragte er plötzlich.
»Ja, einen Zwillingsbruder. Du hast geglaubt, deine Patientin hätte ihn neulich in der Stadt gesehen.«
Er atmete ein paarmal tief durch, ehe er sich ein Herz fasste.
»Ich glaube auch, dass ich ihn neulich gesehen habe. An dem Morgen, an dem du bei mir angefangen hast.«
Er blieb stehen und wandte sich zu ihr um.
»Brede hat praktisch nicht mehr existiert. Doch in den letzten Wochen spukt er mir ständig im Kopf herum. Und jetzt weigert er sich, wieder zu verschwinden. In der Stadt, in der Hütte … andauernd habe ich das Gefühl, dass er uns beobachtet. Aber ich will dich da nicht mit reinziehen.«
Sie schmiegte sich an ihn und schlang die Hände um seine Taille.
»Ich will aber mit hineingezogen werden. Ich freue mich über alles, was du von dir erzählst.«
Eng umschlungen gingen sie weiter.
»Es muss zwanzig Jahre her sein, dass ich Brede zum letzten Mal gesehen habe. Das war in der Innenstadt. Sie hatten ihn gerade aus einer Kneipe rausgeworfen. Er konnte nicht mehr alleine aufstehen. Ich habe ihm angeboten, ihn nach Hause zu bringen. Oder ihm Geld für ein Taxi zu geben. Er lag auf dem Bürgersteig und starrte mich hasserfüllt an: ›Ich will dein Geld nicht, ich will gar nichts von dir!‹, schrie er. ›Eines Tages werde ich dein Leben zerstören, so wie du meins zerstört hast!‹«
22
C ecilie Davidsen fuhr nicht nach Hause. Sie war den gesamten Weg vom Krankenhaus bis nach Vindern zu Fuß gegangen und lief nun einfach weiter. Über den Hügeln war es dunkel geworden. Stundenlang irrte sie aufs Geratewohl durch die Gegend, bis nach Ris und Slemdal, hinauf bis nach Voksenåsen und wieder hinunter nach Holmendammen.
Wie viele Ärzte hätten sich die Mühe gemacht, zu ihr nach Hause zu kommen, um ihr die Nachricht zu überbringen? Dr. Glenne war so ein Arzt. Ihm bedeutete es etwas, dass sie sterben musste. Du wirst nicht sterben, Mama. Das war jetzt neun Tage her. Er war anders gewesen als in seiner Praxis am Bogstadveien. Eigentlich wäre sie lieber zu einer Ärztin gegangen. Oder zu einem älteren Mann. Dr. Glenne war jünger als sie. Doch nachdem sie sich an ihn gewöhnt hatte, begriff sie rasch, welch großes Glück sie gehabt hatte. Er brachte sie dazu, sich zu entspannen. Er war selbstbewusst und souverän und schien jeder Situation gewachsen zu sein. Doch an jenem Tag in der vorigen Woche, als er zu ihr nach Hause gekommen war, hatte er unsicher gewirkt. Nahezu verwirrt. Er hatte sie aufgesucht, um es ihr persönlich zu sagen, von Angesicht zu Angesicht. Er war gekommen, um ihr mitzuteilen, dass sie sterben musste. Sie hatte es gewusst – seit sie gespürt hatte, dass der Knoten gewachsen war. Und trotz alledem hatte sie nicht verstehen können, warum er persönlich vorbeigekommen war.
Benedicte verstand es. Bevor sie an diesem Abend einschlief, sagte sie:
»Du wirst nicht sterben, Mama.«
Doch anstatt zu sagen: »Nein, mein Schatz, natürlich werde ich nicht sterben«, war sie in Tränen ausgebrochen. Benedicte hatte alles getan, um sie zu trösten. Doch als Hendrik später nach Hause kam, hatte sie nur
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