Die Bärenkralle: Thriller (German Edition)
regungslos auf dem Sofa gesessen und vor sich hin gestarrt und kein Wort herausgebracht. Sie hatte es nicht gewagt. Denn wenn sie es ihm erzählt hätte, wäre es Wirklichkeit geworden. Dann hätte sie die Wahrheit nicht länger auf Distanz halten können.
Am Nachmittag war sie im Ullevål-Krankenhaus gewesen und hatte lange mit einer Krankenschwester gesprochen. Schließlich war auch der Chirurg erschienen, der sie operieren sollte.
»Sind Sie Cecilie Davidsen?«
Sie hätte gerne mit Nein geantwortet. Hätte ihm am liebsten ins Gesicht geschrien, dass er sich eine andere Patientin suchen solle. Es gab jedoch keinen Ausweg. Er war sehr freundlich und nahm sich Zeit, obwohl er es offenbar eilig hatte. Auch er wusste, dass die Sache nicht gut ausgehen konnte, und versicherte ihr nicht, dass sie das schon schaffen würde. Er sagte:
»Wir sollten die Sache realistisch betrachten. Ich werde tun, was in meiner Macht steht, aber ich kann Ihnen nichts versprechen.«
Er hatte sie krankgeschrieben. Sie ärgerte sich darüber, darin eingewilligt zu haben. Das Warten in den eigenen vier Wänden. Sie wusste nicht, wohin mit allen Gedanken. Konnte sie nicht beiseiteschieben. Haakon war achtzehn. Er würde schon zurechtkommen. Zurechtkommen? Er ist viel enger mit dir verbunden, als er es zu zeigen wagt. Aber er würde zurechtkommen! Sie musste vor allem an Benedicte denken, die den Rest ihrer Kindheit und Jugend ohne ihre Mama verbringen musste. Würde Hendrik in Zukunft weniger arbeiten? Vielleicht den Job wechseln? Das konnte sie sich nicht vorstellen. Er würde seine Mutter um Hilfe bitten. Sie war immer noch gut beieinander, wenn auch weniger leistungsfähig als früher. Dann würde er bestimmt seine Schwester fragen. Er gibt sie weg. Der Gedanke, dass Benedicte bei seiner Schwester aufwachsen würde, war ihr unerträglich. Sie blieb stehen und hielt sich an einem Laternenmast fest. Die Übelkeit zog ihr den Magen zusammen. Und wenn Hendrik eine andere Frau fand? Alles war besser für Benedicte, als bei ihrer Schwägerin aufwachsen zu müssen.
Sie trat auf den Steg und blickte über den dunklen See. Weinen hätte ihr gutgetan. Aber sie konnte nicht. Sie hatte nicht geweint, seit sie am ersten Abend an Benedictes Bett gesessen und ihr über die Haare gestrichen hatte. Nein, mein Schatz, ich werde nicht sterben. Hinter sich hörte sie Schritte im Kies. Sie kamen näher. Doch sie brachte es nicht fertig, sich umzudrehen.
23
Freitag, 12. Oktober
R ita meldete sich um Viertel nach drei.
»Du weißt, dass ich heute früher Schluss mache?«
Das hatte er vollkommen vergessen.
»Ist Frau Davidsen nicht gekommen?«
»Nein, es ist niemand mehr im Wartezimmer. Nur Solveig Lundwall hat um halb vier noch einen Termin.«
»Und Frau Davidsen hat auch nicht angerufen?«
»Bei mir hat sich niemand gemeldet.«
Nachdenklich blieb Axel sitzen. Cecilie Davidsen sollte am nächsten Mittwoch im Ullevål-Krankenhaus operiert werden. Er würde sie gern noch einmal sprechen, bevor die Operation stattfand. War sie nicht gekommen, weil er sie zu Hause besucht hatte? Weil er sich mit dieser furchtbaren Botschaft in ihr Heim gedrängt hatte? Noch immer sah er die angsterfüllten Augen ihrer Tochter vor sich, als sie ihm die Tür geöffnet hatte.
Er schüttelte diesen Gedanken ab und ging auf den Flur hinaus. Rita war gegangen, Inger Beate ebenso. Das Wartezimmer war leer. Da hatte er eine Eingebung und schloss Olas Büro auf.
Gerade stand Ola am Ruder eines Segelboots und schipperte über den Pazifik. Oder er war mit seinen Söhnen bei irgendeinem Korallenriff vor den Fidschi-Inseln tauchen. Hielt sich am Panzer einer Riesenschildkröte fest und ließ sich aufs Meer hinausziehen. Noch ein halbes Jahr würde er unterwegs sein. Vor zweiundzwanzig Jahren hatte Ola als Trauzeuge auf seiner Hochzeit eine Rede gehalten. Damals hatte er davon gesprochen, dass sie beide ihrem persönlichen Gott anhingen. Er selbst würde Poseidon opfern, während Axel auf Pans Spuren durch die Wälder streife.
Für eine Weile war dies Miriams Büro gewesen. Er meinte ihren Duft wahrzunehmen, obwohl sie seit zwei Tagen nicht mehr da gewesen war. Nächste Woche war er auf einem Seminar, Inger Beate würde Miriam an den letzten drei Tagen ihres Praktikums zur Seite stehen. Obgleich sie sich gestern an der Station Frognerseteren wortlos voneinander verabschiedet hatten, hatte er beschlossen, dass dies ihre letzte Begegnung gewesen war.
Er setzte sich an den
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