Die Bärenkralle: Thriller (German Edition)
hatte. Aber die hat ihn wegen eines anderen Kerls sitzenlassen, als das Kind schon da war, und dann ist alles drunter und drüber gegangen. Als der Hof zwangsverkauft wurde, ist er mit dem Kleinen in eine Waldhütte gezogen, die ihm anscheinend gehörte. Ständig hat er Oswald allein gelassen, während er sich mit einem Kumpel zusammen den letzten Rest seines Verstandes weggesoffen hat, und am Ende haben sie ihm das Kind weggenommen.«
»Aber hätte Oswald nicht in den Wald entwischen können?«
»Jetzt hör mal gut zu, was sein Vater mit ihm gemacht hat. Er hat den Keller unter der Hütte mit einem Eisengitter abgetrennt und Oswald dort eingesperrt, wenn er weggegangen ist.«
Signy machte große Augen. Es war schon schlimm gewesen zu erfahren, dass Toras Mutter drogenabhängig gewesen war und ihr Kind geschädigt hatte, aber diese Geschichte war noch furchtbarer.
»Was? Im Keller eingesperrt? Wie ein Tier?«
»Darum sollten wir ihn in Ruhe lassen, wenn er seine düsteren Stunden hat. Wir wissen nämlich nicht, was in seinem Kopf vor sich geht. Stimmt’s, Oswald?«
Oswald lebte auf, als er sich erneut an die Brust schlug:
»Oswald Bären fangen!«
21
Donnerstag, 11. Oktober
I m halbvollen U-Bahn-Wagen war der Platz direkt neben der Tür noch frei. Axel stellte sein Fahrrad ab und setzte sich. Nachdem es aufgeklart hatte, waren die Temperaturen gestiegen und sorgten trotz der feuchtkalten Luft für eine fast sommerliche Atmosphäre. Ein Geschenk für die Sonnenhungrigen, eine Mahnung für die Ängstlichen.
Jeden Donnerstag war er in der Nordmarka unterwegs, im Winter auf Skiern. Er freute sich stets auf diese Zeit, die ihm allein gehörte. Doch heute war es anders. Er schob den Gedanken beiseite und zog das Dagbladet aus seinem Rucksack, das er sich noch rasch an einem Kiosk gekauft hatte. Die Bärenstory dominierte noch immer die erste Seite. Vor ein paar Tagen hatte er gelesen, dass alle Zeugen noch einmal befragt werden sollten, allerdings hatte sich bis jetzt niemand bei ihm gemeldet. Die Leiterin des Dezernats für Gewaltverbrechen namens Finckenhagen betonte, der Fall habe höchste Priorität, wollte sich aber nicht festlegen, ob es die Polizei wirklich für möglich hielt, dass es in unmittelbarer Nähe der norwegischen Hauptstadt freilebende Bären gab. Der Bevölkerung wurde jedenfalls nicht direkt davon abgeraten, in den Wald zu gehen. Das fehlte auch noch, dachte Axel. Weiter unten auf der Seite waren in einem Rahmen einige Informationen über Bären zusammengestellt worden. Vor über fünfzig Jahren war in dieser Gegend zuletzt ein freilebender Bär gesehen worden, las er. Die letzten Spuren hatte man Ende der neunziger Jahre gefunden. Das maximale Lebensalter für Bären in Skandinavien betrug 25–30 Jahre. Ein ausgewachsenes Tier war zwischen 150–280 cm groß und brachte 100–350 Kilo auf die Waage. Dann las er, wie man sich verhalten solle, wenn man einem Bären in freier Natur begegnete:
»Laufen Sie nicht weg, ein Bär kann eine Geschwindigkeit von bis zu 60 km/h erreichen. Wenn Sie ihm den Rücken zukehren und vor ihm fliehen, betrachtet er Sie als Beutetier. Bäume sind ein schlechter Zufluchtsort. Junge Bären klettern hervorragend, ältere Bären, wenn sie müssen. Verhalten Sie sich ruhig, und ziehen Sie sich langsam zurück. Versuchen Sie nicht, den Bären zu erschrecken.« Danke für den Tipp, dachte Axel und musste grinsen. Er blätterte weiter. Leute auf der Straße waren befragt worden, ob sie Angst vor dem Bären hätten. Der Verfasser des Artikels hob hervor, dass das Leben in der Hauptstadt seinen normalen Gang ginge. Als hätte irgendjemand etwas anderes erwartet. Axel zuckte mutlos mit den Schultern. Der Journalist hatte einen Abend in der El-Coco-Bar in der Rosenkrantz’ gate verbracht. Im hinteren Bereich hatten sie eine Art Gitter angebracht. Dort bekam man die neuesten Drinks wie Pooh’s Honey oder Grizzly Killer. Axel rollte die Zeitung zusammen und klemmte sie in den Spalt zwischen Sitz und Wand.
Sie stand ein Stück vom Bahnsteig entfernt. Trug eine Fahrradhose, eine schwarze Jacke, Sonnenbrille und Helm.
»Hast du lange gewartet?«, fragte er.
Sie waren von zahlreichen Ausflüglern und Fahrradfahrern umgeben, die sich von den Zeitungsüberschriften offenbar nicht abschrecken ließen. Er drückte kurz ihren Arm.
»Tolles Fahrrad.«
Sie setzte sich auf den Sattel.
»Hab ich gestern gekauft.«
Oben bei Blankvannsbråten angekommen, wartete er auf
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