Die Bärenkralle: Thriller (German Edition)
hätte. Es zeigte sich, dass er der Cousin von Åse Berit Nytorpet, ihrer Kollegin in Reinkollen, war. Er zwinkerte Signy immer verschmitzt zu. Obwohl er schon fast sechzig war, steckte immer noch der alte Charmeur in ihm. Sie hatte sogar gehört, er sei kürzlich noch einmal Vater geworden. Und als er jetzt sah, wie verzweifelt sie war, ließ er sofort alles stehen und liegen, um ihre Winterreifen aufzuziehen.
Ein junger Mitarbeiter, den Signy schon lange kannte, übernahm währenddessen die Kasse. Aber was hieß schon jung? Auch er musste inzwischen fast dreißig sein. Denn es war bald zwanzig Jahre her, dass sie seine Grundschullehrerin in Kongsvinger gewesen war. Nicht dass das ein Vergnügen gewesen wäre, er war vielmehr einer der problematischsten Schüler gewesen, die sie je erlebt hatte. Er war zwar nicht auf den Kopf gefallen, doch schwänzte er ständig die Schule, orientierte sich an denen, die fünf, sechs Jahre älter waren, und begann früh mit dem Biertrinken. Später war er dann irgendwie auf die schiefe Bahn geraten, hatte wohl auch ein paar Jahre im Gefängnis gesessen und war schließlich hier an der Tankstelle gelandet. Bestimmt hatte er es nicht leicht. Er sah ziemlich kränklich aus und hatte einen tätowierten kahlen Schädel. Doch Signy gehörte zu den Leuten, die sich um ihre Mitmenschen kümmerten. So schaute sie hin und wieder an der Tankstelle vorbei, kaufte sich ein bisschen Schokolade und verwickelte den Jungen in ein Gespräch.
Doch an diesem Morgen setzte sie sich auf ein ramponiertes Sofa, das in der Werkstatt stand, und blätterte unruhig in einer Zeitung, während Roger Åheim ihren Wagen mit der Hebebühne nach oben fuhr und sich ans Werk machte. Die Tote aus dem Frognerpark, las sie, hatte eine achtjährige Tochter hinterlassen. Da, wo sie gelegen hatte, waren rundherum die Tatzenabdrücke eines Bären gefunden worden.
»Wir hier oben haben schon immer mit den Bären zusammengelebt«, hatte Åse Berit Nytorpet vor ein paar Tagen erklärt, als Signy ihr das Foto des ersten Todesopfers gezeigt hatte. »Jetzt wissen die Leute endlich, wie das ist.«
Aber dann hatte sie etwas hinzugefügt, über das Signy immer noch nachdachte:
»Ich kenne Leute, die sehr weit gehen würden, damit die anderen endlich kapieren, was hier los ist. Die würden sogar einen Bären betäuben und irgendwo in einem Wald in Oslo freilassen.«
»Willst du etwa sagen, dass du jemand kennst, der so was getan hat?«, entgegnete Signy.
»Ich meine niemand Bestimmtes. Aber vielleicht kenne ich jemand, dem das zuzutrauen wäre.«
Daran hatte Signy denken müssen, als sie heute Nacht wach gelegen hatte. Mehrere Male hatte Åse Berit in der vergangenen Woche angedeutet, dass sie möglicherweise etwas wusste, das mit den toten Frauen zu tun hatte. Und ständig hatte sie diese Bewegung mit den zwei Fingern vor dem Mund gemacht, als würde sie einen Reißverschluss zuziehen.
Nachdem Roger Åheim den letzten Winterreifen montiert hatte, stand Signys Beschluss fest. Sie konnte ihr Wissen nicht länger für sich behalten. Sie wollte eine Aussage machen.
28
E in kräftiger, blonder Mann trat im Erdgeschoss des Polizeipräsidiums aus dem Aufzug und ging zum Empfang.
»Polizeikommissar Norbakk«, sagte er und streckte die Hand aus. Der Händedruck war schlaffer, als Axel Glenne beim Anblick von Norbakks Oberarmen erwartet hätte. »Bitte folgen Sie mir«, fügte er hinzu und ging zum Aufzug.
Während sie nach oben fuhren, musterte Axel den jungen Beamten. Norbakk trug Jeans und T-Shirt und mochte um die dreißig sein, doch vielleicht ließ ihn der dichte Pony, der ihm in die Stirn fiel, jünger aussehen, als er war.
»Wahrscheinlich ist es für Sie als Arzt nicht einfach, am Nachmittag Ihre Praxis zu verlassen«, bemerkte Norbakk – vermutlich um die Spannung zu mindern, die zwei fremde Männer spüren, wenn sie sich in einem Lift gegenüberstehen.
»Da haben Sie recht«, bestätigte Axel mit wohlwollendem Lächeln. Er nahm gerade an einer dreitägigen Konferenz über Lungenkrankheiten teil, hatte es aber unterlassen zu fragen, warum sie ihn aufs Präsidium bestellt hatten, anstatt die Sache am Telefon zu besprechen. Eigentlich kannte er den Grund. Am vorigen Abend war er von einer Polizeibeamtin angerufen worden. Sie hatte ihm erzählt, wer die Frau war, die man im Frognerpark tot aufgefunden hatte. Danach hatte er die halbe Nacht wach gelegen und nur wenig von dem mitbekommen, was auf der Konferenz am
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