Die Bärenkralle: Thriller (German Edition)
weckte dieser Verdacht das Interesse der ganzen Welt. Die entdeckten Bärenspuren sowie die charakteristischen Verletzungen der Todesopfer, die eindeutig auf einen Bärenangriff hinwiesen, waren für alle Nachrichtenmacher sozusagen ein gefundenes Fressen. Nachdem Agnes Finckenhagen sich in ihrem dürftigen Schulenglisch zwei, drei Sätze abgerungen hatte, übernahm Viken das Kommando. Vor zehn Jahren hatte er an einem Austauschprojekt mit der englischen Polizei teilgenommen und über ein Jahr in Manchester verbracht. Er beantwortete die Fragen der ausländischen Medienleute in fließendem Englisch und erlaubte sich sogar einen Scherz:
»Oslo wird in Norwegen als ›Tigerstaden‹, als ›City of Tigers‹ bezeichnet. Diesen Namen hat die Stadt einst bekommen, weil es als gefährlich galt, nachts auf die Straße zu gehen. Dennoch kann ich Ihnen versichern, dass bei uns keine Tiger durch die Straßen laufen.« Diesen Scherz, der bei den Journalisten allgemeine Erheiterung auslöste, hatte er sich während der morgendlichen Besprechung ausgedacht. Nach der Pressekonferenz hatte ihm der Polizeipräsident die Hand gegeben.
»Gut gemacht, Viken!« In diesem Moment war ein deutscher Journalist aufgetaucht und hatte um ein Interview gebeten. Als Viken sich die Aufzeichnung ansah, war er mehr als zufrieden. Treffer für mich, Finckenhagen, dachte er und war sicher, dass sie es genauso empfand.
Dann stellte er die Fernsehnachrichten an. Die sogenannten Bärenmorde kamen erst an dritter Stelle. Erneut wurden Bilder der Orte gezeigt, an denen die beiden Opfer gefunden worden waren. Danach wurde ein Interview mit dem Polizeipräsidenten gesendet. Nach ihrem peinlichen Kommentar von gestern hatte man Finckenhagen einen Maulkorb verpasst. Sie war naiv genug gewesen, zu der Forderung, Südnorwegen zum bärenfreien Gebiet zu machen, Stellung zu beziehen. Dabei wussten alle, dass diese Diskussion von einem parlamentarischen Hinterbänkler losgetreten worden war, der gerne einen über den Durst trank und alles dafür tat, um irgendwie in die Schlagzeilen zu kommen. Dass Finckenhagen ihm auf den Leim gegangen war, hatte den Polizeipräsidenten, wie gemunkelt wurde, ziemlich verstimmt. Zwei zu null für mich, dachte Viken zufrieden, während er eine der Bananen schälte, die er bei 7-Eleven gekauft hatte. Er hatte festgestellt, dass sie seinen Magen mindestens ebenso beruhigten wie die Tabletten, die sein Arzt ihm verschrieb. Obwohl dieser meinte, dass ihm nichts fehlte, sollte sich Viken mit Chemie vollstopfen.
»Sie haben offenbar einen empfindlichen Magen«, hatte dieser messerscharf festgestellt und sich nicht entblödet, seine Erkenntnisse aus der Lektüre irgendwelcher Kriminalromane zum Besten zu geben: »Haben nicht alle Kriminalkommissare Schwierigkeiten mit dem Magen?«
Zum Stand der Ermittlungen hielt sich der Polizeipräsident bedeckt. Desto wichtiger, wie sie der Öffentlichkeit gegenüber auftraten, und weil sie in diesem Punkt von Anfang an alles richtig gemacht hatten, gingen die Zeitungen kaum darauf ein, dass die Ermittlungserfolge in einem so aufsehenerregenden Fall offenbar bescheiden waren. Aber war das wirklich so? Sie hatten Rückendeckung von ganz oben. Ihnen standen alle erdenklichen Mittel zur Verfügung. Bis jetzt. Es waren so viele Hinweise eingegangen, dass ein Mitarbeiter ausschließlich damit beschäftigt war, diese zu sondieren. Und Jennifer Plåterud, die fähigste Gerichtsmedizinerin, mit der Viken je zusammengearbeitet hatte, rief ihn täglich an und konnte ihren Eifer in dem Fall Cecilie Davidsen kaum verbergen. Ihre Wunden waren tiefer als die bei Hilde Paulsen, nicht nur was den Rücken, sondern auch was Oberkörper und Gesicht betraf. Arme und Beine wiesen identische Einstiche auf. Für ein Sexualverbrechen gab es auch hier keine Anhaltspunkte.
Das Telefon klingelte. Es war die Zentrale. Ein Kollege aus Hedmark wollte ihn sprechen. Er notierte sich die Nummer und rief zurück. Der Anrufer stellte sich als Kjell Roar Storaker vor, Polizeibeamter aus dem Distrikt Åsnes. Ja, sicher, Viken wusste, wo das war, unmittelbar an der Grenze zu Schweden.
»Entschuldigen Sie, dass ich so spät noch anrufe. Sicherlich hätte ich mir den Anruf sparen können.«
»Kein Problem«, versicherte Viken, ohne seinen Blick vom Bildschirm abzuwenden.
»Es geht um diese Bärengeschichte.«
Viken wunderte sich über den Ausdruck Bärengeschichte, aber ein besserer fiel ihm auch nicht ein.
»Wir erhalten in
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