Die Bärenkralle: Thriller (German Edition)
hatte, um sich darauf einstellen zu können, was sie heute erwartete. »Bärenspuren in Osloer City.« Ihr stand der Mund offen. Das Foto zeigte die Fundstelle am See, die tote Frau, die weißgekleideten Kriminaltechniker sowie eine weitere Person, die vermutlich sie selbst war. Das Foto war mit einem Teleobjektiv aus dem Hubschrauber heraus gemacht worden. Auf der Pressekonferenz um zehn Uhr würde es rundgehen. Agnes Finckenhagen und Viken würden an ihr teilnehmen und auch jemand aus dem sechsten Stock, vielleicht der Polizeipräsident persönlich. Viken hatte klargemacht, dass er »keine Gnade« walten lassen würde, sollten irgendwelche Interna nach außen dringen. Nina Jebsen musste über den Ausdruck schmunzeln und fühlte sich an den Filmtitel eines altmodischen Western erinnert, hatte jedoch nicht den geringsten Zweifel, dass Viken es ernst meinte.
Mit Viken auszukommen war gar nicht so schwierig, wie viele behaupteten. Er war wie eine komplexe Maschine, deren Funktionsweise man ergründen musste. Das hatte sie eines Morgens zu Sigge Helgarsson gesagt, nachdem er einen Rüffel bekommen hatte, doch schien er ihre Auffassung nicht zu teilen. Sigge hatte vor einer Weile damit angefangen, Kommissar H. M. Viken als »His Master’s Voice«, später nur noch als »The Voice« zu bezeichnen. Nina fand das nicht unpassend, vermied es aber, diese Bezeichnung selbst in den Mund zu nehmen.
»Wir haben eine Stunde Zeit, bevor die Dezernatsleiterin und ich wegmüssen«, gab Viken bekannt.
Nina fingerte nervös an ihrem Bericht herum, der vor ihr auf dem Tisch lag. Sie fand es ziemlich eigenartig, dass er immer nur von der »Dezernatsleiterin« sprach, wenn er Agnes Finckenhagen meinte. Es war mehr als ein halbes Jahr vergangen, seit sie ihre Stelle angetreten hatte. Dass man Viken übergangen hatte – einen routinierten Ermittler mit dreißigjähriger Berufserfahrung –, war nicht von der Hand zu weisen. Wenn er ein Team leitete, legte man sich besser nicht mit ihm an, jedenfalls wenn man vorhatte, weiterhin bei diesem Dezernat zu arbeiten. Doch wer ihm gegenüber loyal war, der stand unter seinem persönlichen Schutz, zumal als Neuling, das hatte nicht nur sie erfahren. Er vertrat im gesamten Gefüge ihre Interessen, und zwar »laut und deutlich«, wie er selbst betonte. Doch als Dezernatsleitung hatten sie eine Frau eingestellt, die zehn Jahre jünger war als er und mit Gewaltdelikten nur wenig Erfahrung besaß. Viken hatte sich lautstark darüber gewundert, wie weit man es mit ein paar Abendkursen bringen konnte, vor allem als Frau. Danach hatte er den Mund gehalten.
»Sollten wir die Gruppe noch ausweiten?«, fragte Jarle Frøen, der Ermittlungsrichter, der auch als Untersuchungsleiter eingesetzt worden war. Ein Witz, ihn so zu bezeichnen, solange Viken faktisch die Ermittlungen leitete. Frøen galt als einer der unfähigsten Juristen im Haus. Vielleicht war Viken über sein Mitwirken deshalb so erfreut, dachte Nina Jebsen. Der Ermittlungsrichter neigte zur Fettleibigkeit und besaß einen birnenförmigen Kopf, an dessen Seiten ein paar rote Haarsträhnen regelrecht festzukleben schienen. Er war kaum älter als sie, hätte aber gut und gerne Mitte vierzig sein können.
Viken schien das Für und Wider abzuwägen, ehe er antwortete:
»Lasst uns warten, bis wir wissen, welche Art von Kompetenz wir noch benötigen könnten.«
»Die von heute Nacht … ich meine Frau Davidsen, wissen wir da schon etwas über die Todesursache?«, fragte Norbakk.
Viken schaute zu seiner Kollegin hinüber.
»Hast du was gehört, Nina?«
»Ich habe mit jemand vom Gerichtsmedizinischen Institut gesprochen, einer Frau Finnerud …«
»Plåterud«, verbesserte Viken.
Nina Jebsen spürte, dass sie errötete.
»Richtig. Sie hat mehrere Einstiche an Armen und Beinen entdeckt. Es liegt auch ein erstes Ergebnis der Blutuntersuchung vor.«
»Und das sagst du erst jetzt?«, fuhr Viken sie an. »Haben sie Spuren eines Narkotikums namens Thiopental gefunden?«
»Ja, das stimmt.«
Viken kratzte sich an seinem kräftigen Unterkiefer. Wie üblich trug er ein frisch gebügeltes weißes Hemd.
»Wir haben noch nicht offiziell verlauten lassen, dass es dasselbe Betäubungsmittel ist, von dem Hilde Paulsen eine Überdosis injiziert wurde.«
Er schaute von einem zum anderen.
»Zwei Frauen wurden auf identische Weise ermordet. Wir können davon ausgehen, dass es sich um denselben oder dieselben Täter handelt.«
Um seine Aussage zu
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