Die Bärenkralle: Thriller (German Edition)
immer noch verschrumpelte Heidelbeeren an den Sträuchern hingen, war der unbestimmbare Duft des Winters bereits zu ahnen. Er entdeckte einen Trampelpfad mit frischen Spuren, vermutlich von einem Elch. Elchen war er schon öfter begegnet. Ganz in der Nähe hatte er Bie einst ausgezogen und sie an einer umgestürzten Kiefer von hinten genommen, als eine Elchkuh den Abhang hinuntergestürmt kam. Zwei Meter von ihnen entfernt war sie stehen geblieben und hatte sie angestarrt, und für einen kurzen Moment sah es so aus, als wolle sie zum Angriff übergehen. Dann drehte sie ab und verschwand mit zwei Kälbern im Schlepp. Am nächsten Tag hatte er Ola davon erzählt. Sie hatten in seinem Behandlungszimmer Kaffee getrunken, ehe der erste Patient kam.
»Du weißt doch noch, was ich als Trauzeuge auf deiner Hochzeit gesagt habe«, bemerkte Ola mit dem unschuldigsten Grinsen der Welt. »Kein Tier würde es wagen, dich anzugreifen, während du durch die Wälder streifst und Pan deine Opfer darbringst.« Ola war der beste Freund, den er je gehabt hatte. Doch nicht einmal ihm hatte er erzählt, was damals wirklich mit Brede passiert war.
An dem Weiher blieb er stehen. Vor wenigen Wochen hatten Miriam und er hier gebadet. Er hatte immer noch ihr Bild vor Augen, wie sie aus dem Wasser gestiegen war. Der nackte, weiße Körper, der ihm entgegenkam. Halb im Spaß hatte sie gesagt, sie wolle ihn dorthin mitnehmen, wo sie herkam. Zu einem Haus am See, weit entfernt von der nächsten Stadt namens Kaunas.
Er stieg auf den Hügel und ging auf der anderen Seite wieder hinunter. Erreichte die selbstgebaute Waldhütte. Betrachtete sie schweigend. Niemand war da. Mit der Taschenlampe leuchtete er hinein. Auf einer zusammengerollten Decke lagen eine leere Bierflasche, eine geöffnete Packung Bockwürstchen, eine Zeitung. Er faltete sie auseinander. Es war das Dagbladet von vorgestern. Unten in der Ecke ein Bild des Kommissars, der ihn verhört hatte: »Keine neue Spur im Fall der Bärenmorde.«
Ein Stück weit entfernt, auf der anderen Seite der Mulde, in der sich die Hütte befand, setzte er sich ins feuchte Moos und lehnte sich gegen einen Baumstamm. Saß unbeweglich da, während die Dunkelheit hereinbrach. Es war höchst unwahrscheinlich, dass Brede hier auftauchen würde. Doch Axel war sicher, dass es irgendwann geschehen würde. Es rieselte in den Baumwipfeln. Ein Flugzeug am Himmel, dann Stille. Wenn sich jemand der Hütte näherte, würde er es auf großen Abstand hören.
Eine halbe Stunde nach Mitternacht. Der Wind hatte aufgefrischt. Die Temperatur musste unter null gefallen sein. Ein halber Mond zeigte sich hin und wieder zwischen den Wolken. Er zog die Jacke enger um seine Schultern, doch es half nicht. Einige Minuten später stand er auf und ging langsam zur Hütte. Legte sich dort hinein und deckte sich mit der nach Schimmel stinkenden Wolldecke zu. Durch den Riss in der Plastikplane sah er ein Stück schwarzen Himmel. Brede hatte lange genug Gelegenheit, die Verantwortung für seine Tat zu übernehmen, Axel. Und es hilft ihm nicht im Geringsten, dass du ihn jetzt in Schutz nimmst. Bitte schick ihn nicht weg, Vater. Brede hat es nicht so gemeint. Die Stimme des Vaters ist beherrscht, als er antwortet, doch Axel hört, dass unterschwellig etwas brodelt, das jederzeit explodieren und ihn in Stücke reißen kann, wenn er einen falschen Schritt macht. Er traut sich nicht, mehr zu sagen, und kurz darauf legt ihm der Vater die Hand auf die Schulter. Es gefällt mir, dass du ihn verteidigst, Axel. Du bist ein guter Junge. Aus dir wird einmal jemand werden, der für das einsteht, was er tut. Aber du musst wissen, dass es für manche Taten keine Vergebung geben kann. Ich wollte nicht, dass es so kommt, Brede, dachte er. Und während ich hier liege und ins Dunkel starre, spüre ich die haarfeine Grenze, die dein Leben von meinem trennt. Es bedarf nur eines winzigen Schritts, bevor ich so werde wie du und niemals zurückkehre.
Er hatte nichts gehört, vielleicht hatte er geschlafen. Plötzlich schob sich etwas über den Riss in der Plane. Ein Gesicht? Er zuckte zusammen und kroch rückwärts aus der Hütte. Als er sich aufrichtete, hörte er Schritte, die sich entfernten. Ein Schatten verschwand zwischen den Bäumen.
»Warte!«, rief er und stürmte ihm hinterher. Blieb auf der Kuppe des Hügels stehen und lauschte. Jemand lief in Richtung Weiher. Er rannte, so schnell er konnte, stolperte über Gestrüpp, rappelte sich wieder auf.
Weitere Kostenlose Bücher