Die Ballade der Lila K
gibt mir einen Kuss.
»Gute Nacht, mein Liebling.«
Die Schiebetür gleitet zu. Ich höre, wie sie sich entfernt, höre das Klappern ihrer Absätze. Sie ist weg. Ich habe keine Angst. Ich habe vollstes Vertrauen. Ich schließe allmählich die schlafschweren Augen.
Sie nahm ihre Freier nach Hause mit. Beim Prozess sind die Nachbarn als Zeugen aufgetreten. Manche haben ausgesagt, dass es pausenlos zur Sache ging , bis zu zwanzig Nummern pro Nacht. Oft mit zwielichtigen Typen, die sie sonst wo aufgelesen haben mochte. Junkies, genau wie sie. So geht es über Seiten und Seiten. Diese verfluchte Spitzelbande, als hätten sie jede Nacht mit dem Auge am Spion verbracht.
Zwanzig Nummern. Das muss man sich mal vorstellen. Meine Mutter konnte ja schlecht zulassen, dass ich das mit ansah. Das versteht sich von selbst. Außerdem galt es, mich vor möglichen Kinderschändern zu verbergen. Sie hat mich zu meinem eigenen Schutz in den Schrank gesteckt. Aus Liebe. Weil sie keine andere Wahl hatte. Wieso hat das niemand begriffen?
***
Eines Abends im Dezember habe ich draußen vor der Glasfront ein Miauen gehört. Es war schon Nacht, ich konnte kaum etwas erkennen. Halb ungläubig trat ich näher. Er war es aber wirklich, drückte die Schnauze gegen die Scheibe, riesig, feuerrot, mit Wunden übersät. Ich machte die Fenstertür auf.
»Du lebst ja, mein lieber, guter Kater!«
Miauend neigte er den Kopf zur Seite. Ein Ohr, das linke, an dem einst der Peilsender befestigt gewesen war, hatte man ihm abgerissen. Ich strich ihm leicht über die Nase.
»Du hast mir ganz schön gefehlt.«
Er blinzelte.
»Willst du nicht reinkommen, Pascha?«
Er rührte sich nicht von der Stelle.
»Komm schon, mein Lieber. Draußen ist es viel zu kalt.«
Er miaute erneut und wies mit dem Kopf in die Dunkelheit, als wollte er mir etwas zeigen. Neugierig folgte ich seinem Blick, und da habe ich die andere Katze entdeckt, die langsam am Gesims entlanglief.
»An welchem verrufenen Ort hast du die denn aufgetrieben?«
Mit seinen herrlichen nilgrünen Augen warf er mir einen so ruhigen, intensiven Blick zu, dass ich erschauerte. Die andere Katze kam immer näher, tauchte nach und nach aus dem Dunkeln auf. Am Ende des Gesimses angelangt, sprang sie auf den Balkon und gesellte sich zu Pascha. Und ich begriff, dass Pascha nicht mehr allein war. Er hatte eine Gefährtin. Eine schöne Straßenkatze mit rundem schwerem Bauch.
Ich brachte sie im Badezimmer unter, möglichst weit weg von der Hauptkamera. Ich ahnte, dass es einen Mordsärger geben würde, wenn man sie bei mir entdeckte. Was Fernand mir alsbald bestätigte:
»Du kannst sie nicht hierbehalten, Lila, das verstößt gegen das Gesetz!«
»Das habe ich mir schon gedacht, Fernand.«
»Bei Pascha ist das kein Problem: Man braucht nur den Totenschein annullieren zu lassen und ihm ein neues Implantat einzusetzen. Aber diese … Katze musst du dringend der Gesundheitspolizei melden!«
»Was werden sie mit ihr machen?«
»Das kann ich dir nicht genau sagen. Man wird sie wohl einschläfern. Ich glaube nicht, dass sie gemeldet ist.«
»Aber sie ist doch Paschas Gefährtin. Und Sie sehen ja, dass sie trächtig ist!«
»Das kann nicht sein!«, krächzte Fernand. »Pascha ist zeugungsunfähig, wie alle genmanipulierten Kater. Er kommt als Vater nicht in Frage!«
»Was für ein Skandal«, entgegnete ich säuerlich. »Da hat sich die Katze einfach von irgendwem schwängern lassen und will ihm die Vaterschaft anhängen. Wirklich eine Schande!«
»Das ist nicht lustig!«
»Erlauben Sie mir, sie noch ein bisschen zu behalten, Fernand. Wenigstens bis die Kleinen geboren werden. Das dürfte nicht mehr lange dauern.«
Er sah mich entgeistert an.
»Ist dir klar, was du riskierst, wenn der Überwachungsdienst dir auf die Schliche kommt?«
»Nun seien Sie mal nicht so, Fernand. Es ist doch nur für kurze Zeit. Bis zur Geburt. Danach werde ich sie melden, großes Ehrenwort.«
Er lief dunkelrot an.
»Du bist ja verrückt! Falls es eine Kontrolle gibt … Ach, was lasse ich mich überhaupt auf diese Diskussion ein – damit allein mache ich mich schon strafbar!«
»Aber das Risiko, dass wir abgehört werden, ist minimal. Ich brauche nur noch vierteljährlich zur Nachsorge zu gehen. Und sie müssen so viele Leute überwachen.«
»Trotzdem …«
»Ich nehme das Risiko auf mich, Fernand.«
»Aber wie willst du sie ernähren? Man wird gleich auf dich aufmerksam werden, wenn du dich unterstehst,
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