Die Ballade der Lila K
nicht dein Ernst!«
»Doch.«
»Aber das ist ja Wahnsinn. Bei deinem Potential!«
»Ich pfeif auf mein Potential. Ich will bloß einen Job. Je einfacher, desto besser.«
»Das ist Wahnsinn!«
»Sie wiederholen sich. Und das ist nun mal meine Entscheidung.«
»Aber wie kommst du darauf, Lila? Ich versteh dich einfach nicht.«
»Wäre nicht das erste Mal.«
Unbeirrt fuhr er fort:
»Ich brauche dir wohl nicht zu sagen, wie sehr die Kommission deinen mangelnden Ehrgeiz beklagen wird!«
»Jetzt stellen Sie sich mal vor, wie es wäre, wenn ich wirklich studieren wollte: Bei meinem Potential , wie Sie sagen, könnte das gut zehn Jahre dauern. Und das Zentralheim müsste sämtliche Kosten tragen. Glauben Sie mir, wenn Ihre Kollegen von der Kommission sich erst vor Augen führen, was sie durch meinen mangelnden Ehrgeiz einsparen, werden sie vor Freude an die Decke springen!«
»Wohl kaum! Genau wie ich haben sie sich für dich die besten Zukunftschancen erhofft. Und nun werden sie genau wie ich von deiner Wahl enttäuscht sein.«
»Sie können mich doch nicht zwingen!«
»Stimmt, ich kann dich zu nichts zwingen. Aber ich hätte trotzdem gern eine Erklärung.«
»Da gibt es nichts zu erklären, Fernand. Ich will nicht studieren. Es reizt mich einfach nicht.«
»Aber was willst du dann, Lila? Was, zum Teufel?«
»Das habe ich Ihnen schon gesagt: eine einfache Arbeit, ohne große Verantwortung, am besten an einem Ort, wo ich möglichst wenigen Menschen begegne.«
»Das ist ziemlich vage. Und das sieht dir gar nicht ähnlich … Hast du wirklich keine konkretere Vorstellung?«, fragte er leicht argwöhnisch.
Ich antwortete nicht. Er sah mich scharf an.
»Lila, verrate mir doch mal, ob es einen Bereich gibt, in dem du diese einfache Arbeit besonders gern verrichten würdest?«
Ich hielt dreißig Sekunden die Luft an. Jetzt war Fingerspitzengefühl gefragt.
»Wäre es vielleicht möglich, mit Büchern zu arbeiten? Beispielsweise in der Großen Bibliothek? Da hätte ich meine Ruhe …«
»Bücher, was sonst«, murmelte er und betrachtete das Lexikon auf meinem Schreibtisch. »Ich hätte es mir gleich denken können.«
»Sehen Sie … Sehen Sie da eine Möglichkeit?«
»Bücher … Dir ist doch wohl klar, dass das eine heikle Sache ist.«
»Ja schon, aber …«
»Das muss ich erst mit den Kollegen von der Kommission erörtern. Wir werden sehen. Ich kann dir nichts versprechen.«
Die Engstirner reagierten wie erwartet ungnädig. Es ging ihnen nicht anders als Fernand: Sie konnten es einfach nicht verstehen. Ich wusste, dass es meinem Ansehen schadete und möglicherweise unangenehme Folgen haben würde. Aber ich hatte so oder so keine Wahl, ich musste es unbedingt versuchen.
Am Ende gaben die Engstirner nach. Trotz seiner Bedenken hatte sich Fernand für mich eingesetzt – im Grunde hat er mir nie etwas abschlagen können. Er war es auch, der mir die gute Nachricht verkündete:
»Es gibt in allen großen staatlichen Einrichtungen eine Anzahl von Stellen, die Heimzöglingen vorbehalten sind. So können wir unsere … unsere schwierigen Fälle unterbringen.«
»Meinen Sie damit die Schwachsinnigen und Unangepassten, die sonst keiner nehmen würde?«
»Ähm …«
Ich musste lachen, aber er schien das nicht lustig zu finden. Mit unbewegter Miene fuhr er fort:
»Die Kommission hat sich bereit erklärt, dir eine der Stellen aus dem Kontingent der Großen Bibliothek zuzuteilen. Man bietet dir einen Posten als Datenerfasserin an, für die Digitalisierung von Papierdokumenten. Eine einsame Tätigkeit. Anspruchslos. Erfordert nicht die geringste Initiative. Hoffentlich bist du jetzt zufrieden.«
»Sie ahnen gar nicht, wie zufrieden ich bin!«
»Umso besser«, erwiderte er knapp.
»Jetzt haben Sie sich doch nicht so, Fernand! Ich versichere Ihnen, dass dieser Posten für mich ideal ist.«
»Wenn du meinst. Ich habe die Kommission allerdings gebeten, dir eine Spezialklausel einzuräumen: Solltest du binnen einer Frist von drei Jahren deine Meinung ändern, aus welchen Gründen auch immer, verpflichtet sich das Zentralheim, dir ein Studium zu genehmigen und dafür sämtliche Kosten zu übernehmen. Bitte behalte das im Hinterkopf, man weiß ja nie.«
Der liebe Fernand. Eine Spezialklausel also. Eine Art Versicherung gegen die Folgen meiner Entscheidung, die er nach wie vor für eine Riesendummheit hielt. Ich musterte ihn eine Weile, die hochgewachsene, leicht gekrümmte Gestalt, die sorgenvolle Miene,
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