Die Ballade der Lila K
vorsichtig wie möglich ab. Monsieur Kauffmann hatte recht: Man musste nur mal seine Hirnmuskeln bemühen. Sich an die Sätze erinnern, die er hatte fallenlassen. Den Hintersinn erkennen, den die so banal erscheinenden Floskeln bargen.
Bald hatte ich die Notiz unter dem Fischleder gefunden. Nur ein schlichter, sorgfältig gefalteter Zettel mit seiner schönen, zierlichen, schrägen Schrift, die ich auf Anhieb wiedererkannte:
Buc. 4,60 – parve puer risu
Aen. 4,186 .188 – et magnas territat urbes tam ficti pravique tenax quam
124 ° est (O!) ex libris veritas
Eine verschlüsselte Botschaft. Eine posthume Botschaft, die seit fast fünf Jahren ihrer Entdeckung harrte. Meine Augen fingen an zu brennen. Gleich würden die Tränen nur so strömen.
»He, was soll das werden, Mädchen?«
»Tut mir leid. Ich bin einfach gerührt.«
»Mach dich lieber an die Arbeit.«
»Wollen Sie mir nicht helfen, den Text zu entschlüsseln?«
»Sonst noch Wünsche?«
»Geben Sie mir wenigstens einen kleinen Fingerzeig …«
»Wie oft soll ich es dir noch sagen? Benutz dein Hirn, dann kann nichts schiefgehen.«
Est ex libris veritas war bis auf das (O!) leicht zu verstehen. Monsieur Kauffmann hatte mir schließlich eingetrichtert, dass aus den Büchern die Wahrheit kommt. Und meine Klassiker kannte ich gut genug, um die Kürzel Buc. 4,60 und Aen. 4,186.188 aufzulösen: Sie bezogen sich auf Verse von Vergil, Bucolica, Buch IV , Vers 60 und Aeneis, Buch IV , Vers 186 bis 188 . Monsieur Kauffmann hielt Vergil für ein großes Genie. Er hatte mich dazu angehalten, alle seine Gedichte auswendig zu lernen. Fünf Jahre danach konnte ich sie immer noch. Der Bucolica -Vers lautete vollständig:
Incipe, parve puer, risu cognoscere matrem.
»Lerne erst mal, Kindlein, deine Mutter am Lächeln zu erkennen.«
Die Passage aus der Aeneis betraf die Fama, ein verleumderisches Monster, das die Liebe von Dido und Aeneas als Skandalgeschichte in die Welt hinausträgt:
Luce sedet custos aut summi culmine tecti
Aut turribus altis, et magnas territat urbes
Tam ficti pravique tenax quam nuntia veri.
»Bei Tag hält sie auf einer Dachspitze oder einem hohen Turm Ausschau und sät Angst und Schrecken in den großen Städten, indem sie unablässig Gerüchte und Lügen sowie die Wahrheit verbreitet.«
An sich waren die Passagen leicht zu verstehen, aber ich konnte keinen Bezug zu meiner Mutter erkennen. Mir war auch nicht klar, warum Monsieur Kauffmann sich die Mühe gemacht hatte, nach jeder Stellenangabe einen Teil des Textes abzuschreiben:
–parve puer risu
–et magnas territat urbes tam ficti pravique tenax quam
Derart verstümmelt, ergaben die Verse gar keinen Sinn mehr. Ich tappte im Dunkeln.
Es dauerte ein paar Tage, bis ich begriff, dass der Spiegelstrich, der die Zitate jeweils einleitete, kein Spiegelstrich war, sondern ein Minuszeichen. Die Botschaft steckte nicht in diesen verkürzten Zitaten, die man gewissermaßen vom Text abziehen musste, sondern drum herum. Damit blieb Folgendes übrig:
Incipe cognoscere matrem.
»Lerne erst mal deine Mutter kennen.«
Luce sedet custos aut summi culmine tecti, aut turribus altis, nuntia veri.
»Bei Tag hält sie auf einer Dachspitze oder einem hohen Turm Ausschau und verbreitet die Wahrheit.«
Das brachte mich allerdings keinen Schritt weiter. Und ich hatte nach wie vor keine Ahnung, was es mit diesen 124 ° auf sich hatte. War das eine Temperaturangabe? Ein Winkelmaß? Und wofür stand das (O!)? Das Ganze war völlig verworren.
Wochenlang habe ich über diesem Rätsel gebrütet. Die lateinischen Wörter spukten mir im Kopf herum, wirbelten teuflisch umher. Und über dem Ganzen schwebte das Lächeln meiner Mutter, ebenso sanft wie unerreichbar. Eine einzige Qual. Obwohl ich immer wieder Monsieur Kauffmanns Beistand erflehte, hüllte er sich in unerträgliches Schweigen.
Die Lösung kam ganz unerwartet – manchmal beschreitet die Erkenntnis seltsam gewundene Wege. Es war an einem Mittwoch, dem offiziellen Sensor-Tag. Ich hatte ihn aus der Schublade geholt und tastete im Dunkeln noch nach der Gleitgeltube. Dabei stieß ich mit den Fingern an einen kleinen runden Gegenstand, den ich überhaupt nicht einordnen konnte. Ich machte das Licht an. Es war der Kompass, den Monsieur Kauffmann mir zum zehnten Geburtstag geschenkt hatte. Ein schönes Gerät, keine Frage, dessen Nutzen für mich aber stets gleich null gewesen war – während meines abgeschiedenen Lebens in den engen Grenzen des
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