Die Ballade der Lila K
Heims hatte ich kaum Gelegenheit, mich zu verirren. Und so hatte ich den Kompass in meiner Ratlosigkeit ganz hinten in der Schublade verstaut und seither nie wieder rausgenommen. Tatsächlich hatte ich ihn fast vergessen.
Ich steckte den Sensor in die Schublade zurück – von zwei wöchentlichen Simulationen durfte ich wohl ausnahmsweise mal eine ausfallen lassen. Dann machte ich das Licht aus und legte mich ins Bett. Den Kompass hielt ich mit beiden Händen fest. Ich war gerührt, weil ich ihn wiedergefunden, aber auch ein wenig beschämt, weil ich ihn so lange vergessen hatte. Wobei das gar nicht so schlecht war: So hatte ich das Gefühl, dass Monsieur Kauffmann mir den Kompass ein zweites Mal schenkte. Ich erinnerte mich an den Moment, als er ihn mir in die Hand gedrückt hatte: Damit du dich auf deinem Lebensweg orientieren kannst. Damals hatte ich ihn wegen dieser reichlich ausgelutschten Metapher geneckt, aber er hatte sie wacker verteidigt.
Ein Weilchen hing ich den schönen Erinnerungen nach, dann widmete ich mich wieder der Botschaft: 124 ° est (O!) ex libris veritas. Jeder Ziffer. Jedem Zeichen. Jedem Buchstaben. Ex libris veritas. Monsieur Kauffmann sagte das oft. Ex libris veritas. Darin war das Verb est implizit enthalten, wie es im Lateinischen häufig vorkommt. Warum hatte Monsieur Kauffmann es in diesem Fall eigens aufgeschrieben? Und mit einem (O!) versehen?
Auf einmal prickelte es in meiner Handfläche, als schlüge die Kompassnadel wild aus. Da wurde mir schlagartig alles klar.
Ich habe die Anweisung befolgt, die in der Botschaft enthalten war: Gleich am nächsten Morgen bin ich auf das Dach gestiegen. 134 Stockwerke – bestimmt mindestens so hoch wie die höchsten Türme Kathargos. Mit dem Kompass in der Hand bezog ich Stellung Richtung Norden, den Blick auf die zitternde Nadel geheftet. Ich drehte mich langsam um die eigene Achse, bis der Winkel stimmte, 124 ° Ost (!). Dann hob ich den Kopf. Hier war die Antwort, in diesem Ausschnitt der Aussicht. Aber wie sollte ich sie finden? Welches der Gebäude, die sich vor meinen Augen ins Unendliche erstreckten, war das Richtige? Angesichts des riesigen Häusermeers geriet ich beinahe in Panik.
»Nur Mut, Mädchen, du schaffst es.«
Ich brachte kein Wort heraus.
»Du bist fast am Ziel. Mach weiter.«
Ich hielt die Luft an. Eine Minute. Zwei. Drei. Nach vier Minuten ging es mir schon besser. Nach fünf Minuten war der Anfall überstanden.
Ich fing noch einmal von vorn an. 124 ° Ost. Im Geiste zog ich eine Linie in diese Richtung, der ich immer weiter folgte, Haus um Haus, Block um Block, wobei ich jedes Mal nach einer möglichen Verbindung zu meiner Mutter oder zum Inhalt der Botschaft suchte. Langsam drang ich mit den Augen bis zum Horizont vor. Plötzlich hielt ich inne – nur den Bruchteil einer Sekunde, mit angehaltenem Atem, während mir kurz das Blut in den Adern gefror. Ex libris veritas. Es war ja so einfach. Es lag auf der Hand. Ich hätte längst darauf kommen müssen.
Dort hinten ragten, wie riesige aufgeschlagene Bücher unter freiem Himmel, die drei gewaltigen Türme der Großen Bibliothek empor.
Im Juni 2107 bestand ich die Abschlussprüfung mit glänzenden Noten. Damit will ich mich gar nicht brüsten – den Lehrplan hatte ich schon geraume Zeit zuvor abgearbeitet, und es war mir spielend leichtgefallen. Das Wichtigste jedoch war mein Erfolg bei den sozialen Eignungstests gewesen. Fernand konnte einen gewissen Stolz nicht verhehlen – schließlich war dieser Erfolg auch ihm zu verdanken.
»Da bist du aber noch nicht ganz über den Berg, solange du dich dem Umgang mit anderen so beharrlich verweigerst. Man wird dich deswegen auch nach deiner Entlassung zunächst streng im Auge behalten, das sage ich dir besser gleich. Alles andere hat sich zu deinen Gunsten ausgewirkt: deine schulischen Leistungen, dein vorbildliches Betragen … Bravo!«
Eins galt es allerdings noch zu klären: meine weitere Ausbildung. Fernand bedrängte mich schon eine ganze Weile mit der Frage nach meinen Zukunftsplänen. Bislang hatte ich mich immer um eine konkrete Antwort drücken können: Weiß ich noch nicht, ich kann mich nicht entscheiden, da gibt es so vieles, was mich interessiert, lassen Sie mir noch ein bisschen Zeit … Aber nun war die Stunde der Wahrheit gekommen. Ich wusste schon im Voraus, dass sie ihm nicht behagen würde.
»Eigentlich möchte ich gar nicht studieren, Fernand.«
Er starrte mich entsetzt an.
»Das ist hoffentlich
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