Die Ballade der Lila K
jemanden?«
»Nein. Wir sind unter uns.«
»Und wie viele sind dahinter?«, fragte ich und zeigte auf die großen Spionspiegel, die sämtliche Wände bedeckten.
»Ähm … Dahinter sind nur Kameras.«
Ich tat, als glaubte ich ihm. Es war mir ohnehin egal, ob sie zu dritt, zu hundert oder zu tausend waren. Für mich zählte nur, dass ich endlich erfahren würde, was in meinem Vorleben passiert war. Mit einem Wunder rechnete ich dabei nicht. Nach allem, was Monsieur Kauffmann mir schon vor Jahren verraten hatte, ahnte ich, dass es zu meiner Mutter keinerlei Hinweise geben würde. Trotzdem hoffte ich, dass die anderen Informationen meinem Gedächtnis auf die Sprünge helfen würden. Dass mir einiges wieder einfallen würde. Erinnerungen. Spuren, denen ich nachgehen könnte.
»Deine Akte ist hier gespeichert«, murmelte Fernand und deutete auf eine Lamellette, die neben dem Grammabook lag. »Aber ich muss dich warnen: Das zu lesen wird für dich kein Zuckerschlecken.«
Ich verkrampfte mich leicht, bewahrte aber die Ruhe.
»Nichts war für mich jemals ein Zuckerschlecken, das wissen Sie doch.«
Ich griff nach der Lamellette.
»Bist du sicher, dass du das durchziehen willst?«
Die Antwort habe ich mir gespart.
Und dann rollte Seite um Seite vor meinen Augen ab. Insgesamt mehr als zweitausend: Berichte der Kommission, Gutachten der Lehrer und Erzieher, Patientenakte … Sämtliche Jahre, die ich im Heim verbracht hatte, waren bis ins Letzte protokolliert. Das interessierte mich nicht, zumindest nicht direkt. Ich wollte weiter zurückgehen, bis in meine frühe Kindheit. Aber ich habe trotz intensivster Suche nichts gefunden. Kein einziges Dokument aus dieser Zeit.
»Eins versteh ich nicht, Fernand: Die Unterlagen sind nicht vollständig. Wo ist denn der Rest abgeblieben?«
»Der Rest … Tja, der Rest. Der … der wurde gesondert abgelegt.«
»Ich würde ihn gern sehen. Geht das?«
»Ja … Wenn du unbedingt willst … Ich lade ihn für dich hoch.«
Er berührte ein paar Felder auf dem Grammabook, um die Datei freizugeben. Und dann wurde alles auf dem Bildschirm angezeigt.
Diese Kreuze. Sie fielen mir als Erstes ins Auge. Sie waren überall. Überall dort, wo der Name meiner Mutter hätte stehen müssen.
»So … so ist es nun mal, wenn die Elternrechte entzogen wurden«, erklärte Fernand. »Der Name der Vorfahren wird aus der Akte getilgt. Das schreibt das Gesetz vor.«
Das wusste ich bereits. Monsieur Kauffmann hatte es mir gesagt. Ich war darauf gefasst gewesen.
»Natürlich, das Gesetz«, erwiderte ich.
Ich rückte das Grammabook in meine Richtung und las weiter.
Zuerst meine Geburtsurkunde. Datum: 19 . Oktober ’ 89 . Vater unbekannt. Anstelle des Namens meiner Mutter eine Reihe von Kreuzen. Dann folgte der Ort: Grigny-Klinikum, 5 . Bezirk extra muros .
»Die Zone!«
Die Zone. Ich wollte nicht glauben, dass ich dort geboren war, in diesem düsteren Elendsgebiet, das aufgrund von mörderischer Gewalt, Sittenlosigkeit und menschenverachtenden Geschäften in den überregionalen Nachrichten ständig für Schreckensmeldungen sorgte. Schnell ging ich die folgenden Seiten durch, lauter Untersuchungsberichte, die sich auf Arztbesuche in den Mutter-Kind-Einrichtungen des 5 . und später 13 . Bezirks bezogen. Schon wieder die Zone. Für mich ein fremdes Land, völlig heruntergekommen und verwüstet. Ein Schauder durchfuhr mich.
»Sind Sie sicher, dass das meine Akte ist, Fernand?«
Er nickte bedauernd.
»Absolut sicher.«
Der letzte Bericht war auf den 26 . April ’ 92 datiert. Der Arzt hatte notiert: Die Kleine strotzt vor Gesundheit. Spricht schon flüssig. Damit endeten die Aufzeichnungen.
»Ist das alles? Kommt danach nichts mehr?«
»Doch«, antwortete Fernand. »Da wäre noch dein Aufnahmebericht.«
»Wo finde ich ihn? Auch hier drin?«
»Muss das unbedingt sein?«
»Wollen Sie mich verschaukeln?«
Plötzlich brach er in Schweiß aus.
»Schon gut, Lila. Ich gebe die gesperrte Datei frei.«
Auf dem Bildschirm erschien ein Icon mit der Beschriftung Aufnahme Lila, 16. November 2095 .
»Was hat das zu bedeuten, Fernand? Was ist zwischen April ’ 92 und November ’ 95 passiert? Das sind dreieinhalb Jahre ohne Belege.«
»Das kommt manchmal vor. Selten, aber das kommt vor.«
»Soll das heißen, dass ein Teil meiner Akte verschwunden ist?«
»Nein … Es gab lediglich eine Phase, in der das Jugendamt dich aus den Augen verloren hatte.«
Da schrillten bei mir die Alarmglocken,
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