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Die Ballade der Lila K

Die Ballade der Lila K

Titel: Die Ballade der Lila K Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blandine Le Callet
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die geballten Fäuste. Noch nie war er mir so groß erschienen.
    »Sie sind ja richtig stur!«
    »Fast so stur wie du.«
    »Danke, Fernand.«
    Er winkte ab und ging.
    Meine letzten Monate im Heim waren sehr merkwürdig. Jahrelang war mein Alltag bis auf die Minute eingeteilt, geregelt und geplant gewesen. Und plötzlich traten diese Regeln außer Kraft, alles Mögliche konnte passieren, im Guten wie im Schlechten. Das war wohl eine Kostprobe dessen, was mich draußen erwartete.
    Es fing mit dem Tag an, an dem ich mir einen Namen aussuchen sollte. Es mag Ihnen seltsam erscheinen, aber man hatte mich stets nur »Lila« genannt. Lila und nichts weiter. Ich hatte keinen Familiennamen mehr. Er war mir irgendwo zwischen der Festnahme meiner Mutter und den Toren des Zentralheims abhandengekommen. Bislang war das nie ein Problem gewesen, aber jetzt, da mein offizieller Eintritt in die Gesellschaft bevorstand, benötigte ich eine vollständige Identität. Einen Familiennamen. Das entbehrte nicht einer gewissen Ironie.
    »Früher muss ich doch einen gehabt haben«, sagte ich zu Fernand. »Das Einfachste wäre, mir meinen alten Familiennamen zurückzugeben, meinen Sie nicht?«
    Er wurde blass und presste die Lippen zusammen.
    »Das geht nicht, Lila. Die Behörden haben uns den Namen deiner Mutter … das heißt deiner leiblichen Mutter, nie mitgeteilt. Dem Gesetz nach ist sie gar nicht mehr deine Mutter. Die Elternrechte wurden ihr entzogen und … So ist es nun mal. Ich kann nichts dafür.«
    »Ich weiß, Fernand: Sie können nichts dafür, und es tut Ihnen furchtbar leid.«
    Er verkrampfte sich.
    »Glaub mir, ich würde dir helfen, wenn ich es könnte. Aber der Fall wurde vor langer Zeit abgeschlossen. Mir sind die Hände gebunden.«
    Das war typisch für Fernand: Er wollte nur das Beste für mich, sein Bedauern war aufrichtig – und er wusch seine Hände in Unschuld.
    »Wenn ich es also richtig verstehe, hat man mir meinen Namen weggenommen, und wir müssen jetzt einen neuen finden.«
    »Genau. Man hätte dir natürlich von Amts wegen einen zuweisen können – so wurde es früher gemacht. Doch das hat sich inzwischen geändert. Man hält es für zielführender, die Zöglinge selbst wählen zu lassen. Das ist die einhellige Meinung der Experten: So eignen sie sich die neue Identität leichter an.«
    »Ganz schön scharfsinnig, diese Experten.«
    Fernand überging meinen Sarkasmus.
    »Was könnte dir denn gefallen?«
    »Was kommt überhaupt in Frage?«
    »Alles Mögliche: Du kannst einen Namen nehmen, den es schon gibt, oder dich nach einem Ort nennen oder einem Gegenstand … Du hast vollkommen freie Wahl, also nutze sie!«
    Ich sah ihn verständnislos an. Ich wusste gar nicht, was ich mit dieser Freiheit anfangen sollte, nachdem ich immerzu so vielen Zwängen unterworfen gewesen war. Unschlüssig nahm ich das Lexikon zur Hand und blätterte wahllos darin herum. So viele Wörter, unschlagbar, Unschlitt, unschöpferisch, Unschuld , die mir ohne Sinn und Verstand, Mastdarm, Mastiff, Mastikator, Mastix, ohne Hand und Fuß vor den Augen tanzten. Wo sollte das hinführen? Zu Lila Barbiturat, Lila Boogie-Woogie, Lila Brain-Drain … Das war doch absurd. Ich klappte das Lexikon wieder zu.
    »Ich kann das nicht. Wie soll ich mich auch so schnell entscheiden, hic et nunc ?«
    Fernand verdrehte die Augen – er mochte es nicht, wenn ich lateinische Wendungen benutzte. Deswegen verzichtete ich noch lange nicht darauf.
    »Einen Namen kann man nicht mal so eben auf die Schnelle aussuchen. Schließlich ist das eine Entscheidung fürs Leben. Sie hätten mich früher darauf ansprechen sollen!«
    »Nur keine Panik! Wir haben noch Zeit.«
    Ich wollte mein Brillenetui aus der Tasche ziehen. Fernand hielt mich am Arm zurück.
    »Keine Panik«, wiederholte er ruhig. »Nimm dir ein paar Tage Zeit, um darüber nachzudenken. Oder ein paar Wochen, wenn es sein muss. Keine Sorge, dir wird schon ein Name einfallen. Gib mir einfach Bescheid, wenn du so weit bist.«
    Nachdenklich neigte ich den Kopf zur Seite, ohne den Blick vom Lexikon abzuwenden. Ich strich mechanisch über den Einband.
    »Der ist ja eingerissen, hast du gesehen?«
    »Ja, ich weiß.«
    »Gut, dann geh ich jetzt mal.«
    Keine Ahnung, was plötzlich in mich gefahren ist. Ich rief: »Warten Sie!«
    »Was ist?«
    »Ich hab’s.«
    »Was?«
    »Den Namen. So gut wie. Setzen Sie sich, Fernand. Ich hab’s gleich.«
    »Was hast du jetzt wieder ausgeheckt?«
    »Wissen Sie noch, was Julius

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