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Die Ballade der Lila K

Die Ballade der Lila K

Titel: Die Ballade der Lila K Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blandine Le Callet
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Wahrheit. Darauf kam es mir an. Pech für alle anderen.
    Täglich studierte ich die Artikel, mit der gleichen Hingabe wie früher in meinem Zentralheimzimmer die Bücher. Ich prägte mir alles ein – Inhalte, Jahreszahlen, Fotos. Die Aufstände von ’ 91 , die Grenzkontrollen, die Schleuserwege ritzten sich gleichsam in meine Großhirnrinde ein. Die immer gleichen Bilder von brennenden Gebäuden und Straßenschlachten. Die zerfetzten Menschenleiber am Boden und die Hubschrauber, die über die Trümmer hinwegflogen. Stück für Stück rekonstruierte ich die Geschichte jener Jahre, das, was mir immer vorenthalten worden war, und war vollkommen erschüttert. Ich hatte nicht vergessen, was Sie in der Sackgasse gesagt hatten, bevor Sie mich nach Hause zurückbegleiteten: Es ist doch keine Schande, aus der Zone zu stammen. Ich hoffe sehr, dass Sie eines Tages begreifen werden, warum. Dieser Tag rückte unaufhaltsam näher.
    Weil Pascha immer den Löwenanteil meiner Portionen fraß, war er inzwischen richtig fett geworden. Du überfütterst ihn , ermahnte Fernand mich regelmäßig. Wenn du nicht aufpasst, bekommst du noch Ärger. Irgendwann bekam ich es wirklich mit der Angst zu tun: Wenn das Veterinäramt die Ernährung meines Katers unter die Lupe nähme, würde es bald Lunte riechen. Und das wollte ich um jeden Preis vermeiden. Aber ich fühlte mich auch nicht in der Lage, auf die Pastete zu verzichten. Darum habe ich etwas anderes ausprobiert: Eines Abends öffnete ich das Fenster und scheuchte Pascha auf den Balkon.
    »Na los, mein Großer!«
    Er sah mich verwirrt an.
    »Komm schon«, sagte ich und schubste ihn in Richtung Regenrinne. »Schau dich ein bisschen in der Welt um.«
    Er wirkte zusehends verwirrt.
    »Dreh mal eine Runde. Das wird dir Spaß machen, ganz bestimmt!«
    Ein Windhauch streifte sein Fell. Ich streichelte ihm die Seiten, übte leichten Druck aus.
    »Los, mein lieber Kater.«
    Er miaute kurz auf, keine Ahnung, was es zu bedeuten hatte. Vermutlich nichts – Tiere sind dümmer, als man meint. Dann bewegte er sich langsam auf die Regenrinne zu.
    Pascha fand sehr schnell Gefallen an diesen Eskapaden. Ich ließ ihn jeden Abend ziehen. Morgens kehrte er restlos erledigt zurück, mit struppigem Fell, aber so hochmütig wie eh und je, ein Prinz, der sich in den verrufenen Vierteln vergnügt hatte. Du hast sicher etliche Herzen gebrochen, mein Schöner , sagte ich und strich ihm über das orangerote Fell. Er nickte und schnurrte – was immer er mir damit signalisieren wollte.
    Es lief genau so, wie ich es mir erhofft hatte: Nach wenigen Wochen war Pascha wieder rank und schlank – ein bisschen Bewegung und Triebabfuhr, das hatte ihm gefehlt. Nachdem dieses Problem gelöst war, konnten wir beide in aller Ruhe weiter unseren Essgewohnheiten frönen, er aß mein Futter und ich seines. Obst und Gemüse vergrub ich weiterhin in der Farnerde, und alles stand zum Besten in der besten aller möglichen Welten.
    Den Sommer verbrachte ich damit, die ganze Stadt zu durchstreifen, ein Viertel nach dem anderen: 1.  Arrondissement, das Notre-Dame-Museum; 9., die goldenen Weizenfelder auf den Champs-Élysées; 32 ., La Courneuve mit dem riesigen Park und den Prachtvillen aus den 40 er Jahren; 50 ., das olympische Dorf, wo sich im August die Badegäste im Fluss und am Ufer tummelten. Die Luft war mild. Endlich näherte ich mich dem Leben an. Dem der anderen. Ich spürte zwar, dass es nicht für mich bestimmt war, doch zumindest wurde mir nicht mehr übel, wenn ich damit in Berührung kam. Meine Angst stand mir nicht länger im Weg.
    Fernand wusste natürlich von meinen Spaziergängen. Das weckte seine Neugier, und er bestürmte mich mit Fragen: Wo warst du denn heute? Was hast du erlebt? Ich sagte ihm stets die Wahrheit, falls er Nachforschungen anstellte. Für Lügen gab es ohnehin keinen Grund – ich tat ja nichts Schlechtes, im Gegenteil, ich versuchte, mich auf die Außenwelt einzulassen , wie die Empfehlung der Kommission lautete. Fernand bot sich mehrmals als Begleiter an. Ich sagte dann immer: Nein, ich muss lernen, allein klarzukommen. Er bestand nicht weiter darauf.
    Am ersten Samstag im September fuhr ich mit der Tube bis zur Südgrenze. Das war das Äußerste, wenn ich keinen Verdacht erregen wollte. Die Reise, die ich unternehmen musste, um zu meiner Mutter zu gelangen, würde mich weit darüber hinaus führen, aber es war zumindest ein Anfang, die Grenze in Augenschein zu nehmen, ein Gefühl dafür zu

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