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Die Ballade der Lila K

Die Ballade der Lila K

Titel: Die Ballade der Lila K Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blandine Le Callet
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die Augen wieder aufgemacht. Sie sahen mich zwar prüfend, doch ohne Anzeichen von Unruhe an. Sie waren bereit, auf mich zu warten. Also zählte ich weiter. Bei 310 hatte ich mich einigermaßen beruhigt. So gern ich das fortgesetzt hätte, wollte ich Ihre Geduld nicht überstrapazieren – was sein muss, muss sein. Ich sagte: Ich bin bereit . Und wir machten uns wieder auf den Weg.
    Wie lange waren wir unterwegs? Eine Stunde, mindestens. Vielleicht auch zwei. Offen gesagt, hatte ich jedes Zeitgefühl verloren – ich achtete lediglich darauf, wohin ich meine Füße setzte. Sie machten ständig Umwege, liefen ein Stück zurück, um dann eine andere Richtung einzuschlagen, wie ein besoffener oder verirrter Spaziergänger. Dennoch ahnte ich, dass Sie ganz genau wussten, wo es langging.
    Erst als Sie sagten: Da wären wir , habe ich den Kopf gehoben, halb ungläubig, noch ganz erschöpft von diesem langen Marsch. Wir hatten eine winzige, auffallend heruntergekommene Sackgasse erreicht, ein vergessenes Fleckchen inmitten der glänzend herausgeputzten Stadt.
    »Gefällt es Ihnen?«
    Ich sah Sie verblüfft an. Auf Ihren Lippen zeichnete sich der Hauch eines Lächelns ab.
    »Hier hat sich seit dem vergangenen Jahrhundert nichts verändert: Es gibt weder Mikros noch Kameras. Das ist doch mal eine nette Abwechslung von Ihrem Viertel, nicht wahr?«
    Keine Kamera. Das schien mir unvorstellbar. Es stimmte aber. Ein Schauer lief mir über den Rücken. Nicht aus Furcht, sondern weil es so eigenartig war, mit Ihnen allein zu sein – ich meine wirklich allein, ohne irgendeine Art von Überwachung oder Schutz. Sollte uns hier etwas zustoßen, würde niemand je davon erfahren. Auf einen Schlag kam mir die Welt weniger sicher vor.
    »Offenbar gefällt es Ihnen nicht.«
    »Doch, doch …«
    Sie lachten.
    »Sie werden sich schon noch daran gewöhnen. Und ich hatte sowieso keine andere Wahl. Solche Orte sind nämlich unabdingbar, wenn man sich über illegale Aktivitäten austauschen will.«
    Kurz hatte ich das Gefühl, zu sterben oder wenigstens in Ohnmacht zu fallen – zwei bewährte Methoden, der Wirklichkeit zu entkommen. Aber ich blieb auf den Beinen, etwas schwankend zwar, bis ins Mark getroffen, doch aufrecht – allem Anschein nach war ich mit der Zeit noch zäher geworden.
    »Sie haben sie also gefunden?«
    »Wenn Sie die Dokumente meinen, die Justinien Ihnen ohne Genehmigung aus dem Magazin geholt hat, dann lautet die Antwort ja.«
    Ich wurde tiefrot.
    »Und was … was wird jetzt …?«
    »Sie haben nichts zu befürchten. Das wollte ich Sie wissen lassen.«
    »Heißt das, dass Sie … Sie haben mich nicht angezeigt?«
    »Es ist alles in Ordnung. Sie haben nichts zu befürchten«, wiederholten Sie.
    »Warum tun Sie das?«
    »Wegen Justinien. Schließlich war das seine Entscheidung. Und auch ein wenig Ihretwegen. Das Leben steckt voller Rätsel . Diese Maxime hat Ihnen doch besonders gefallen?«
    Ich nickte, unfähig, ein Wort herauszubringen. Justiniens Stimme erklang wieder in meinen Ohren: Das Leben steckt voller Rätsel, Mamiselle. Wie wahr. Ich schloss einen Moment die Augen.
    »Danke.«
    »Sie brauchen mir nicht zu danken. Erklären Sie mir bloß, warum. Ich würde es gern verstehen.«
    »Es ist, weil … weil ich mich für die Zone interessiere.«
    »Und dafür gehen Sie solche Risiken ein?«
    Ich schwieg.
    »Das ist nicht die ganze Wahrheit, nicht wahr? Es gibt noch einen anderen Grund. Einen konkreteren Grund.«
    Sprachlos starrte ich ihn an. Dann nickte ich.
    »Verraten Sie mir, welchen?«
    Ich schwieg weiterhin.
    »Vertrauen Sie mir nicht?«
    »Daran liegt es nicht, aber …«
    »Dann sagen Sie mir den Grund.«
    Ich konnte schlecht sagen: Nein, von mir werden Sie nichts erfahren. Nach dem, was Sie gerade für mich getan hatten, war das einfach unmöglich, und ich hatte auch nicht die Kraft, Sie erneut zu belügen. Also beschloss ich, Ihnen einen Teil der Wahrheit zu verraten. Nur einen Teil. Und das war schon viel.
    »Ich … ich bin in der Zone geboren. Darum.«
    Ich senkte den Kopf, beschämt, ein Geheimnis preisgeben zu müssen, das ich bis dahin so sorgsam gehütet hatte. Wenn Sie wüssten, wie sehr ich mich deswegen schämte. Um das Ganze ein wenig abzuschwächen, fügte ich hinzu:
    »Ich bin zwar extra muros geboren, aber ich kann mich an nichts erinnern. Fast nichts. Lassen Sie uns bitte nie wieder davon reden.«
    »Es ist doch keine Schande, aus der Zone zu stammen, Mademoiselle«, erwiderten Sie

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