Die Ballade der Lila K
entwickeln. Ich dachte, das würde mir Rückhalt geben, wenn der große Tag endlich käme.
Bei meiner Ankunft war es bereits später Nachmittag. Ich war für alle Fälle gewappnet – dunkle Brille auf der Nase und in meiner Tasche das Fläschchen Beruhigungsmittel. Aber das brauchte ich gar nicht. Alles war genauso wie auf den Bildern der Nachrichtensendungen, hübsch und sauber und ordentlich: die endlose Mauer mit den bunten, abstrakten Motiven, die rosaroten und himmelblauen Hortensiensträucher, alle zwanzig Meter ein Wachturm, der einen Checkpoint überragte. Über den Platz zogen sich lange Schlangen von Zonenbewohnern in perfekter, geradezu geometrischer Symmetrie. Der nicht abreißende Strom wurde in regelmäßigen Abständen von den Sicherheitsportalen geschluckt. Darüber blinkte das Schild: Jede Störung des Kontrollablaufs wird bestraft. Alles ging schnell und reibungslos vor sich: Die Männer streckten den Automaten Gesicht und Aufenthaltsgenehmigung hin; die Automaten prüften die Papiere und scannten die Iris binnen Sekunden. Es gab nicht das kleinste Körnchen Sand im Getriebe. Jetzt verstand ich besser, wie die Stadt jeden Abend innerhalb weniger Stunden Millionen von Gastarbeitern loswerden konnte, die sie am folgenden Morgen wieder aufnahm.
Von fern war das Rattern der Züge zu hören, die anschließend vom Südbahnhof abfuhren und all diese Leute in ihre jeweiligen Bezirke transportierten. Hunderte von Zügen, die kreuz und quer durch die Zone fuhren und Tausende Passagiere beförderten. Bei der Vorstellung, dass ich mich bald dazugesellen würde, überkam mich ein Schauder – ob vor Stolz oder Angst, vermag ich nicht zu sagen. Es spielte sowieso keine Rolle, denn ich war wild entschlossen, das durchzuziehen. Ich hatte so sehr darum gekämpft. Auf die Angst kam es da nicht mehr an. Wir würden uns schon zusammenraufen, sie und ich.
Ende September war es noch warm. Ich aß gerade am Fuß des Memorials zu Mittag, als Sie dazukamen.
»Darf ich mich einen Augenblick zu Ihnen setzen?«
»Natürlich«, stammelte ich und packte hektisch den Deckel auf die Metalldose, die meine Pastete enthielt.
»Bitte, essen Sie ruhig weiter.«
»Ich … ich war schon fertig.«
»Sie kommen oft hierher, nicht wahr?«
»Ja. Mir gefällt dieser Ort. Er ist schön ruhig, und dann gibt es diese eingravierten Namen. So viele Menschen … Ich versuche, sie mir vorzustellen, und … das ist sehr wohltuend, auch wenn ich nicht erklären kann, warum. Außerdem denke ich oft an Justinien. An seine Eltern. Ich frage mich, welche Namen zu ihnen gehören. Er sagte, er habe ihre Namen vergessen. Aber vielleicht können Sie mir sagen, wie sie hießen?«
»Hat Justinien Ihnen etwa erzählt, dass die Namen seiner Eltern auf der Säule stehen?«
»Wussten Sie das nicht?«
»Justinien hatte gar keine Eltern, Lila. Er war eine Chimäre.«
»Eine Chimäre!«
»Ich dachte, das hätten Sie erraten.«
Ich schüttelte den Kopf, völlig verblüfft.
»Glauben Sie mir, Lila: Justinien war wirklich eine Chimäre. Eine missglückte Chimäre, wie fast alle«, fügten Sie mit einem bitteren Lächeln hinzu. »Das war ihm allerdings deutlich anzusehen. Wie kommt es, dass Sie …?«
»Ich … ich weiß auch nicht … Natürlich habe ich gemerkt, dass er … gewisse Probleme hatte, dass er anders war als alle anderen, aber er kam mir trotzdem … er kam mir menschlich vor.«
»Ja, Sie haben recht: Justinien war überaus menschlich. Wahrscheinlich menschlicher als einige von uns.«
Sie lächelten traurig.
»Er hat viel geschrieben. Gedichte. Wussten Sie das?«
»Ja, das hat er mir gesagt.«
»Am Tag, als er starb, hatte er eine Lamellette bei sich. Aber darüber wissen Sie vielleicht Bescheid?«
»Nein … nein, ich habe keine …«
»Die Polizei hat mir eine Kopie zukommen lassen. Auf der Lamellette waren seine Gedichte gespeichert. Ich habe sie gelesen. Sie sind sehr schön. Wenn Sie wollen, kann ich sie Ihnen gern geben.«
»Später vielleicht … aber nicht jetzt. Dafür ist es noch zu früh.«
»Natürlich.«
Wir schwiegen eine Weile, mit unserer Trauer beschäftigt. Die Sonne warf den Schatten des Memorials auf uns. Schließlich haben Sie das Schweigen gebrochen:
»Ich bin gekommen, um Abschied zu nehmen, Lila. Ich fahre wieder in die Zone. Das System, das ich bei meinem letzten Aufenthalt eingerichtet habe, erfordert noch einige Anpassungen.«
»Ach …«
»Ich werde einen Monat weg sein. Vielleicht auch
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