Die Ballade der Lila K
letzte Bastion der Monster gewesen. Bis Ende des Sommers hatte ich sie daraus vertrieben.
Sie kamen jeden Tag auf einen kleinen Plausch bei mir vorbei: Wie geht es Ihnen heute? Was haben Sie bei Ihrem letzten Spaziergang erkundet? Und welche Farbe hat Ihr Kater jetzt? Ich genoss Ihre Aufmerksamkeit, Ihre Zuwendung. Und auch Ihren Blick.
Nach ein paar Minuten sagten Sie stets: Ich lasse Sie jetzt weiterarbeiten. Ich habe Sie schon zu lange aufgehalten. Und ich musste jedes Mal gegen den Drang ankämpfen zu antworten: Bleiben Sie doch noch ein bisschen. Ich habe Sie immer gehen lassen. Das kam mir besser zupass. So konnte ich mir weiter einreden, dass unser Austausch belanglos wäre.
Seit Fernand von Ihrem Besuch in meiner Wohnung erfahren hatte, fragte er mich ständig über Sie aus. Ich sagte so wenig wie möglich und hatte trotzdem das Gefühl, es sei schon zu viel. Meine Antworten nahm er mit einem feindseligen Schweigen zur Kenntnis, das mir Unbehagen bereitete. Eines Tages war ich so unvorsichtig, ihm von Ihren Falten zu erzählen – hätte ich doch lieber den Mund gehalten. Die lässt er nicht spritzen? , rief er entgeistert. Das wollte er mir gar nicht glauben. Schließlich sagte er:
»Das lässt tief blicken.«
Als ich ihn verständnislos ansah, zischte er:
»Dein Monsieur Templeton posiert offenbar gern als Freigeist, als Nonkonformist. Es macht ihm wohl Spaß zu provozieren! Wenn ich dir einen Rat geben darf, Lila: Nimm dich vor diesem Mann in Acht.«
Ich hätte ihn natürlich in seine Schranken weisen können – was ging ihn das überhaupt an? Immerhin war ich alt genug, um selbst zu entscheiden, was ich zu tun und zu lassen hatte. Aber ich wollte ihn nicht verärgern. Es wäre dumm gewesen, wenige Monate vor meiner Mündigsprechung mit dem Feuer zu spielen. Darum sagte ich nur:
»Keine Sorge, Fernand. Ich wahre Distanz.«
Und das war nicht einmal gelogen.
Keine Ahnung, warum ich Ihnen davon erzähle. In Wirklichkeit waren mir Fernands Sticheleien herzlich egal. Ich konzentrierte mich auf das Wesentliche: meine Spaziergänge und die Bibliothek. Lucrezia brachte mir jeden Morgen die Papierdokumente, die ich im Lauf des Tages bearbeiten sollte. Sie handelten stets von der Zone – ein unverhofftes Glück, das alles andere als zufällig war, wie ich ahnte. Ich empfand für Sie eine große Dankbarkeit, auch wenn ich nicht begriff, warum Sie mir helfen wollten. Das Leben steckt voller Rätsel.
Nachdem ich die Artikel aufbereitet und digitalisiert hatte, nahm ich mir die Zeit, jeden einzelnen sorgfältig zu lesen. Nach und nach kamen mir Zweifel an der offiziellen Darstellung der Zustände in der Zone, der Tumulte und Terrorakte, der Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung . Die Dinge lagen offenbar komplizierter. Manche Berichte warfen ein ganz neues Licht auf die Ereignisse, einige Verfasser schlugen sich sogar auf die Seite der Widerstandskämpfer – ihre Bezeichnung für die terroristischen Vereinigungen. Plötzlich stand alles auf dem Prüfstand. Alles, was ich für klar und eindeutig gehalten hatte.
Bis dahin hatte ich meine Arbeit niemals richtig hinterfragt. Ich hielt mich einfach an die Vorschriften: Gestrichen wurde alles, was zu Gewalttaten anstiften konnte, zu sexueller Perversion, zum Genuss verbotener Substanzen, zu gesundheitsschädigendem Essverhalten. Gestrichen wurde alles, was gegen die Menschenwürde oder das Recht am eigenen Bild verstieß. Gestrichen wurden alle diskriminierenden Äußerungen. Et cetera. Auf den ersten Blick kam mir das harmlos vor. Außerdem durfte ich nicht lange nachdenken, wenn ich mein Tagespensum schaffen wollte. Als ich mir aber die Mühe machte, die Artikel vor und nach der Digitalisierung miteinander zu vergleichen, wurde mir klar, wie problematisch die ganze Angelegenheit war. Die Eingriffe waren zum Teil so massiv, dass sie komplett sinnentstellend wirkten.
Ich habe schnell begriffen, welche Absicht dahintersteckte, und das hat mich wirklich empört. Fast hätte ich Sie deswegen aufgesucht – ich mochte nicht glauben, dass Sie dieses Verfahren guthießen. Nach reiflicher Überlegung kam ich aber davon ab, ich wollte nicht auffallen, und erst recht nicht dadurch, dass ich mich in politische Fragen einmischte. Was gingen mich die dunklen Machenschaften in der Bibliothek an? Sollten sie ruhig ihre Kürzungen, Änderungen, Verfälschungen anordnen. Mich betraf das nicht. Ich hatte Zugang zu den Originaltexten, zur
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