Die Ballade vom Fetzer: Historischer Roman (German Edition)
Das Rathaus zu überfallen! Unvorstellbar!
Mathias prostete dem Wachposten zu. Er hatte auch gelacht, aber dann wurde er nachdenklich. Nach einer Weile stand er auf und ging nach draußen.
Es war Nachmittag. Die warme Septembersonne warf den breiten Schatten des dreistöckigen Rathauses auf den belebten Platz. Einige Buden waren umringt von neugierigen Bürgersfrauen, französischen Gendarmen und schmutzigen Kindern. Hier wurde alles verkauft: Fett, Fische, Leuchter, Stickbänder, Eier und Bibeln. Mathias winkte zwei Marktweibern zu, denen er manchmal einige Beutestücke billig verkaufte. Er lachte gern mit diesen Frauen, vergaß nie, einen Witz zu machen oder ihnen zumindest durch ein kleines Handzeichen seine Freundschaft zu zeigen. Sie versorgten ihn mit den wichtigsten Stadtnachrichten, von ihnen erfuhr er, wo nachts die Bürgerwehr kontrollierte und wann besonders strenge Offiziere an den Stadttoren Dienst taten.
Im Schatten des Rathauses zerwühlten schon die ersten Bettler die Abfallhaufen vor den umliegenden Hauseingängen. In der Dämmerung würden immer mehr zerlumpte Gestalten in diesen Dreckhaufen nach Essensresten und noch brauchbaren Gegenständen suchen. Ein Scherenschleifer rief mit heiserer Stimme nach Kunden. Langsam schob er seinen Karren näher an Mathias heran. Mathias beachtete ihn nicht, er starrte auf das Rathaus. Prüfend suchten seine Augen die hohen Fenster ab, sie waren fest und unerreichbar. Sein Blick glitt zum Eingangsportal. Eine sehr hohe Flügeltür aus dunklem, dickem Holz! Zwei Wachen standen neben ihren mannshohen, blauroten Schilderhäuschen. Mathias überlegte – nur mit einer List würde er in das Rathaus hineingelangen können. Dann fiel ihm Humbroich ein.
Er kehrte zu den Kumpanen zurück. »Wer überfällt heute Nacht mit mir das Rathaus?« Sie lachten. Die Gefährten glaubten wieder an einen Witz. Doch als Mathias ihnen flüsternd erklärte, was er vorhatte, wurden sie schlagartig ernst. Heckmann sah den jungen Mann lange an. Der Plan war einfach und gut.
»Du hast doch Nachtdienst?«, fragte Mathias.
Humbroich nickte.
»Hast du noch eine zweite Uniform?«
Wieder nickte Humbroich. Mathias erklärte ihm seine Aufgabe und schickte ihn mit Heckmann nach Hause. Mit den anderen vereinbarte er die Einsatzstunde, dann ging er zum Schmied Briesak in der Michaelstraße. Von ihm ließ er sich ein neues Brecheisen machen.
Der Schmied beschlug die Pferde des Militärs und auch die Pferde der Räuber, die sie den Soldaten gestohlen hatten. Außerdem fertigte er die Brecheisen für alle Diebe in der Gegend, denn diese langen Eisen wurden jedes Mal zurückgelassen, wenn die Beute weggeschleppt wurde.
Humbroich trat seinen Dienst vor dem Rathaus pünktlich um zehn Uhr abends an. Er verhielt sich wie jeden Abend. Breitbeinig stand er vor dem blau-roten Schilderhäuschen und trank ab und zu einen Schluck aus der Branntweinflasche, die er in seiner Uniformjacke verborgen hatte. Dann reichte er sie seinem Kollegen. In den nächsten beiden Stunden forderte Humbroich den Kameraden immer wieder zum Trinken auf Er selbst setzte die Flasche zwar an den Mund, trank aber nichts, obwohl er vor Angst fror.
Um Mitternacht war der andere Wachposten betrunken. Er wunderte sich kaum, als plötzlich ein dritter Wachsoldat vor ihm stand. Dann bekam er einen Schlag auf den Kopf und fiel um. Heckmann, der Humbroichs zweite Uniform trug, schleppte den Ohnmächtigen neben den dunklen Eingang des Rathauses. Dann nahm er dessen Platz ein.
Mathias duckte sich zusammen mit Schlager hinter eine Marktbude. Der lange Schlager hielt die Blendlaterne halb unter seiner Jacke verborgen. Seit einer Stunde nieselte es schon. Weit entfernt jaulte ein Kettenhund. Mathias stieß einen Pfiff aus. Zwei andere Kameraden hatten sich auf der gegenüberliegenden Seite des Marktplatzes in einem Hausflur versteckt. Sie antworteten gleich auf den Pfiff.
»Los jetzt! Du bleibst dicht hinter mir!«, raunte Mathias. Sie huschten zu den Wachhäuschen. Aus der Dunkelheit flüsterte Heckmann: »Der Soldat ist besoffen und schläft.«
»Ich mach jetzt das Schloss auf.« Mathias gab Schlager das Brecheisen und zog einen großen Dietrich aus dem Gürtel. In drei Sätzen war er an der hohen Flügeltür. Es knirschte, als der kurze Finger des Dietrichs den Mechanismus bewegte, dann klackte es laut. Mathias hielt den Atem an, langsam und ohne Knarren schwang die Tür auf Schlager folgte ihm durch den Spalt. »Gib mir das Brecheisen
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