Die Ballonfahrerin des Königs
da?»
«Sanson ist schon wieder weg, aber einer seiner Gehilfen ist noch im Haus.» Der Mann schob seinen schwarzweißen Zweispitz
in den Nacken. «Der Henker musste zu Robespierres Hinrichtung.»
«Was sagst du da? Der Prozess kann doch unmöglich schon …»
|261| «Es fand kein Prozess statt. Die Angeklagten wurden für gesetzlos erklärt, weil sie sich ihrer Festnahme durch die Flucht
ins Rathaus widersetzt hatten. Das Tribunal hat nur ihre Identität festgestellt und sie dann zum Tode verurteilt. Die Männer
sind schon auf dem Weg zur Guillotine.»
Zum ersten Mal verlor Croutignac etwas die Beherrschung. Er wurde bleich und packte Marie-Provence am Arm. «Lass einen Wagen
in der cour du Mai bereitstellen. Wir fahren los.»
«Ein Wagen für eine einzelne Gefangene, citoyen?», fragte der Gendarm zweifelnd.
«Willst du vielleicht mit drin Platz nehmen?», zischte Croutignac, woraufhin der Mann im Nu verschwand. «Komm!», befahl Croutignac
und zog Marie-Provence hinter sich her.
«Ich denke nicht daran!», fauchte Marie-Provence. Die allgemeine Aufregung hatte ihr neue Hoffnung geschenkt und ihre Widerstandskraft
geweckt. Sie wand sich unter dem klammerartigen Griff.
Croutignacs Gesicht versteinerte sich. Ein kurzer Ruck, und er verdrehte ihren Arm. Sie schrie auf vor Schmerz. «Ich hätte
kein besonderes Vergnügen daran, dir den Arm zu brechen – aber ich werde es ohne zu zögern tun, wenn du Schwierigkeiten machst.»
Tränen flossen über Marie-Provence’ Wangen, ohne dass sie etwas dagegen hätte tun können. «Es ist gut!», stieß sie wütend
aus.
Kurz darauf schob ihr Peiniger sie in einen Raum mit getünchten Wänden, der nur mit ein paar Hockern und einem Tisch eingerichtet
war. Auf dem Tisch lagen eine große Schere, ein Messer und ein Korb.
«Hier, fessle sie und mach sie fertig. Aber schnell, hörst du?», warf Croutignac einem jungen Mann in Zivil zu. Er zwang Marie-Provence
auf einen der Hocker nieder.
Der Gehilfe des Henkers griff nach einer Fessel und zurrte Marie-Provence die Hände im Rücken zusammen. Dann packte er das
Messer, das auf dem Tisch lag und schnitt |262| den schmutzigen Kragen ihrer Kutte auf Handlänge auf. Der Halsansatz und der obere Teil der Brust lagen nun frei. Dann packte
der Mann ihre Haare. Etwas Metallenes und Kaltes schob sich Marie-Provence in den Nacken. Sie fuhr zusammen.
«Schon vorbei», murmelte der Gehilfe und gähnte. «Kein Grund zur Aufregung.» Geübt warf er die armlange Fülle ihrer abgeschnittenen
Haare in den Korb.
Marie-Provence unterdrückte ein Schluchzen. Des wärmenden Mantels ihrer Haare beraubt, spürte sie die Kälte und Feuchte des
Raumes überdeutlich auf ihrem Nacken und ihren Schultern. Sie presste die im Rücken zusammengebundenen Arme fest an den Körper,
um Croutignac nicht an ihrer Schwäche teilhaben zu lassen. Doch es nutzte nichts. Ihr Körper bebte nun unkontrolliert.
«Fertig», murrte der Gehilfe. Er packte einen Besen und begann, den Raum zu kehren.
«Los, der Wagen wartet», sagte Croutignac und zog sie vom Hocker. Ihr aufgeschlitztes Hemd rutschte hinunter und legte ihre
Schultern frei. Sie wand sich, doch Croutignac achtete nicht auf sie. Mit schnellen Schritten führte er sie durch verschiedene
Gänge und Türen, zerrte sie durch einen kleinen Hof und schubste sie eine Treppe hinauf. Seine Hast verriet Marie-Provence,
dass Croutignac sich längst nicht so sicher fühlte, wie er es behauptet hatte.
Verzweifelt zermarterte Marie-Provence sich den Kopf nach einer Möglichkeit des Aufschubs. Das Bewusstsein, dass womöglich
nur ein paar Stunden über ihr Leben oder ihren Tod entschieden, brachte sie beinahe um den Verstand.
Eine Arkadenreihe entließ sie in die cour du Mai. Croutignac zog Marie-Provence zu dem Leiterwagen, der dort auf sie wartete,
und sie war fast erleichtert. Im Augenblick wünschte sie sich nichts so sehr, wie endlich von der verhassten Gesellschaft
ihres Peinigers befreit zu werden.
Croutignac blieb hinter dem Wagen stehen. «Du hast doch nichts dagegen, wenn ich dich begleite?», fragte er.
|263| Marie-Provence hatte Mühe, mit ihren gefesselten Händen auf die hohe Ladefläche des Leiterwagens zu gelangen. Croutignac hatte
neben dem Kutscher Platz genommen. Er sah ihr ungerührt dabei zu, wie sie auf den Knien herumrutschte, ehe sie auf die Füße
kam.
Sie blickte um sich, überrascht über die Ruhe, die im Hof herrschte. Sonst wurde
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