Die Ballonfahrerin des Königs
habe ihn vor den Kopf gestoßen.»
«Nun, dann solltest du vielleicht einfach sagen, dass es dir leidtut. Und dass du ihn liebst.»
«Liebe?» Über Marie-Provence’ Gesicht huschte ein Ausdruck der Sehnsucht und der Trauer. Sie schüttelte langsam den Kopf.
«Nein, das kann ich ihm nicht sagen. Es würde falsche Erwartungen in ihm wecken. Er würde glauben, ein Recht auf mich zu haben.»
«Hat er das denn nicht?»
Marie-Provence rang sichtlich nach Worten. «Es ist nicht so einfach. Ich gehöre ihm ganz und gar. Doch es gibt noch andere
Bindungen als die zwischen Mann und Frau.»
«Dein Vater?», fragte Rosanne mitfühlend. «Der chevalier trägt André nicht in seinem Herzen, nicht wahr? Weiß er überhaupt
von deinen Gefühlen für André?»
«Gott bewahre! Das Thema würde nur zu unfruchtbaren Diskussionen und Streit führen – wenn nicht gar zu Schlimmerem. Ich würde
meinem Vater gegenüber meine Zuneigung für André niemals offenbaren.»
«Aber André hat dich gerettet! Ist dein Vater ihm dafür denn nicht dankbar?», forschte Rosanne weiter.
«Insgeheim hoffe ich es, aber …» Marie-Provence stockte. «Eine innere Stimme warnt mich, dass mein Vater André nur in meinem Umfeld dulden wird, solange
er glaubt, ihn für seine Zwecke benutzen zu können. Und ich bin so feige und lasse meinen Vater in dem Glauben.» Sie schüttelte
den Kopf. «Dabei kann ich Vater noch nicht einmal einen Strick aus seiner Selbstsucht drehen − oft genug werfe ich mir mein
Verhalten André gegenüber selbst vor.»
Rosanne runzelte die Stirn. Sie vermutete, dass die Freundin sich etwas vormachte, wenn sie glaubte, sie könne ihrem Vater
ihre Empfindungen für André verbergen. Ihr selbst war klar, dass Marie-Provence ihr Herz längst verschenkt hatte. Ein Blick
in ihr Gesicht, als sie im Dachraum vor Andrés Bett auf die Knie gefallen war, hatte ausgereicht. «Ich verstehe, dass du dich
deinem Vater verpflichtet fühlst. Doch |271| die Zeiten haben sich geändert. Die alten gesellschaftlichen Regeln gelten nicht mehr. Heute braucht keine Frau mehr ihres
Vaters wegen einen Mann zu verstoßen. Du solltest mit André offen über das reden, was dich zerreißt.»
«Ich habe es versucht», meinte Marie-Provence trocken. «Kurz darauf haben wir uns angeschrien und uns getrennt.»
Das Bild, das Marie-Provence hier entwarf, passte nicht zu dem Eindruck, den Rosanne von André gewonnen hatte. Sie ahnte,
dass noch mehr zwischen Marie-Provence und André stand, als Guy de Serdaine oder irgendwelche Standesunterschiede, und zog
ihre Freundin an sich. «Sei bitte vorsichtig. Und überleg dir, was du tust. Die Liebe eines Mannes ist kostbar. Hätte ich
mir sonst so viel von Georges gefallen lassen?»
In dem Moment fiel Rosannes Blick durchs Fenster auf den Garten. Mit ruhigem, entschlossenem Schritt nahm eine hochgewachsene
Gestalt den Weg zur Kirche. Rosanne stieß einen kleinen Laut aus. «Nun sieh. Er ist da. Lauf schnell und lass ihn nicht warten!»
***
André sah sich um, bevor er das kleine Tor aufschob. Doch die heiße Straße war leer.
Als er sich einen Weg durch den verunkrauteten Friedhof gebahnt hatte und die verwitterte Kirche erblickte, an der das Schild
Robespierre, Licht der Nation
höhnte, hielt er kurz inne. Noch immer ergriff ihn ein Gefühl der Beklommenheit, wenn er an seine Erlebnisse im Schacht dachte,
und noch immer suchten ihn Albträume heim, die sich um seine Flucht drehten. Andererseits … Er umrundete die Kirche und lächelte, als er in die Wildnis vorstieß, die den Weg zur Falltür verbarg. Ja, andererseits
würde er Marie-Provence überallhin folgen, wenn sie ihn rief. Wie Orpheus seine Eurydike, würde er nicht davor zurückschrecken,
sie selbst im Hades zu suchen.
«Du bist gekommen.» Marie-Provence saß auf dem Sockel |272| der kleinen Marienkapelle, inmitten der Geißblattranken. Die Freude in ihrer Stimme war unüberhörbar.
«Natürlich. Du hast mich doch darum gebeten.» Er war glücklich zu sehen, wie gut sie sich erholt hatte. Die entkräftete, mit
blauen Flecken und Schwellungen übersäte junge Frau, die er halb ohnmächtig vom Schafott getragen und zu ihrem Vater gebracht
hatte, schien nur noch eine schlechte Erinnerung.
Sie errötete leicht. Sie stand auf und trat langsam zu ihm. Die Zeit schien stillzustehen, als ihre Hand über seine Wange
glitt. Sanft zog sie sein Gesicht zu sich herab und küsste ihn. «Danke!», flüsterte
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