Die Ballonfahrerin des Königs
sie.
Er hob eine Braue. «Wofür?», fragte er lächelnd.
Sie sah ernst zu ihm auf. «Dass du mich gerettet hast. Dass du gekommen bist. Dass es dich gibt.»
Er brachte kein Wort heraus.
Marie-Provence biss sich auf die Unterlippe. Auf einmal schien sie verunsichert. «Ich weiß nicht, ob ich dich bitten darf …» Ihre Hand wies auf die Falltür. «Es ist leider der einzig sichere Weg ins Schloss.»
Er betrachtete die Klappe mit Unbehagen. «Ist deine Tante so erpicht darauf, mich zu sehen?», versuchte er zu scherzen.
«Sie sind weg. Meine Tante, die Vezons, der abbé d’If, Clément und Ernestine. Nach meiner Verhaftung sind sie alle geflohen.
Sie hatten Angst, ich würde etwas verraten.»
«Weg?» Er sah sie überrascht an und versuchte, seiner Stimme einen möglichst beiläufigen Tonfall zu verleihen, als er fragte:
«Und dein Vater?»
«Er ist in Paris. Bei Freunden.» Wieder stieg ihr eine leichte Röte ins Gesicht. «Wir wären alleine.»
Er starrte sie ein paar Sekunden lang an, und sie errötete noch tiefer. Er räusperte sich. «Ich bin letztes Mal bei der Besichtigung
des Schlosses unterbrochen worden. Das würde ich gern nachholen.» Er lächelte. «Wenn ich es mir recht überlege, gibt es nichts,
wonach ich mich mehr sehne.»
|273| Das Schloss war noch schöner als in seiner Erinnerung, was vielleicht daran lag, dass sie die prächtigen Zimmer Hand in Hand
durchquerten.
Marie-Provence führte André durch die blendend weiße Eingangshalle mit den ziselierten Säulen, unter dem scharfen Blick der
Adler entlang, zu den Stufen, die in den ersten Stock führten. Hoch oben, unter dem Saum der schneeweißen Kuppel, die über
dem Treppenhaus schwebte, schubsten sich die beflügelten Engel über den Stuckrand. Marie-Provence wies André durch den abgedunkelten
leeren Ballsaal. Die Ritzen der vorgeklappten Fensterläden spannen die Mittagsglut zu gleißenden Fäden. In ihnen flimmerte
der Staub, der von den Schritten des Paares aufgewirbelt wurde.
Sie gelangten in einen großen Raum nach dem anderen – überall nichts als Leere. André begann sich zu fragen, wohin seine Begleiterin
ihn wohl brachte, als sie endlich vor einer Tür stehen blieb.
«Warte hier auf mich, ja?», flüsterte sie. Sie stellte sich auf Zehenspitzen und schloss mit zitternden Fingern seine Augenlider.
«Nicht gucken!»
Er hörte das kaum wahrnehmbare Beben in ihrer Stimme, spürte ihre Erregung. Folgsam hielt er die Augen geschlossen und wartete,
wie ihm schien, eine Ewigkeit, während er versuchte, ihr Tun durch die gedämpften Geräusche zu erraten. Der alte Holzboden
knarrte unter seinen Sohlen, und die blinde Leere des Raumes wuchs in seiner Einbildung zu gespenstischen Ausmaßen heran.
«Jetzt! Komm jetzt, mon amour!»
Er riss erleichtert die Augen auf. Marie-Provence war verschwunden. Eine seltsame Scheu ergriff ihn. Er folgte zögernd dem
leisen, einladenden Klang ihrer Stimme bis zu einer offenstehenden Tür.
Fassungslos nahm er jedes Detail der Szenerie auf, die sich ihm darbot. Der Raum, vor dem er stand, war winzig und kreisrund.
Unter der Kuppel in Blau und Gold flatterten lachende Putti. Die Wände waren vollständig verkleidet mit goldenen, kannelierten
dorischen Säulen und |274| einer Unmenge von zinngefassten Spiegelplatten, die sich einander tausendfach das Licht des einen Fensters hin- und herwarfen.
Und der Boden … André atmete tief ein. Der Holzboden war das Kostbarste, was er jemals erblickt hatte: eine Einlegearbeit von erlesener
Schönheit. Meisterhaft dargestellte Kornblumen, Ähren und Blätter übersäten ihn in allen Schattierungen zwischen Bernsteingelb
und Ebenholzschwarz, eingefasst von filigranen Ornamenten aus Blei und Elfenbein. In strenger Geometrie angeordnet, wiesen
sie alle auf die Mitte des Raumes hin. Und genau in dieser Mitte kniete Marie-Provence, auf einem dünnen Lager und einzig
bekleidet von einem dünnen Hemd.
Sie errötete tief, sah ihn aber offen an. «Komm», sagte sie.
Es folgten Stunden der Seligkeit. Er fragte nicht, was ihm dieses Glück bescherte, wollte nicht wissen, weshalb sie sich ihm
hingab, fragte weder nach Moral noch nach Vergangenheit oder Zukunft. Die Leidenschaft riss sie beide fort. Erst als es bereits
dämmerte, fanden sie zurück in die Wirklichkeit, verzückt und so erschöpft, dass keiner von ihnen die Kraft fand, aufzustehen
oder auch nur zu sprechen. Sie schliefen auf der Stelle ein,
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