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Die Ballonfahrerin des Königs

Titel: Die Ballonfahrerin des Königs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tania Douglas
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    ***
    Es war bereits elf Uhr, als Marie-Provence an diesem Morgen das Zimmer von docteur Jomart betrat. Bei ihrer Ankunft hatte
     sie den Glockenschlag gehört, der die Visite des Arztes, des Chirurgen und eines Lehrlings in der Krankenstation ankündete,
     und so war sie nicht überrascht, das Büro verlassen vorzufinden. Sie setzte ihren Korb ab.
    Jetzt, da sie sich ihren Platz bei Jomart erkämpft hatte, musste sie warten, bis sich eine günstige Gelegenheit ergab, um
     ihre Pläne voranzutreiben. Derweil würde es klug sein, |52| alles zu tun, um ihre Einstellung zu rechtfertigen; und sie war in der Tat fleißig gewesen während der letzten Woche.
    Durch die lange Anreise, die sie jeden Tag zu bewältigen hatte, blieb sie höchstens vier oder fünf Stunden im Heim, bevor
     sie sich wieder auf den Rückweg nach Maisons machen musste. Dennoch war sie gut vorangekommen. Auf dem Schreibtisch lagen
     nur noch die Schriftstücke, die mit der medizinischen Versorgung der Kinder oder der Ammen des Heimes zu tun hatten: Dossiers
     der Patienten, noch nicht beschriftete Beurteilungs-Formulare für Neuankömmlinge, die Ergebnisse der Syphilis-Untersuchungen
     der Ammen. Alles andere war auf die Fensterbretter verbannt worden: Korrespondenz, eine Anweisung an das Personal, den Ammen
     mehr Gemüse zu essen zu geben, verschiedene Veröffentlichungen der medizinischen Fakultät, Zeitungen, neue Erlasse der Convention,
     Anordnungen der Verwalterkommission des Waisenheims sowie Jomarts Notizen über Versuche und Beobachtungen bei seinen kleinen
     Patienten.
    Marie-Provence betrachtete mit gerümpfter Nase die dunklen, grünbraunen Wände, die das Licht zu schlucken schienen. «Ihr bräuchtet
     dringend einen neuen Anstrich», sagte sie laut. «Oder, noch besser, ein hübsches Kleid. Tapeten.»
    «Was sagten Sie, ma chère?» Docteur Jomart warf einen Stapel Krankenberichte auf den Tisch.
    «Guten Morgen, docteur! Ich sagte, dass diese Wände so abstoßend sind, dass ich bei ihrem Anblick jeden Tag aufs Neue versucht
     bin, schreiend davonzulaufen.»
    «Nun, wenn das so ist, müssen wir das ändern!» Jomart rieb sich die Hände. «Lassen Sie einen Tapetenhändler kommen.»
    «So gut gelaunt, docteur?», fragte Marie-Provence, während sie die achtlos hingeworfenen Krankenberichte zusammenschob.
    «Allerdings», lächelte Jomart. «Ich glaube, der kleine César ist über den Berg. Bougre, der Kleine, hat es uns aber auch nicht
     leichtgemacht.» Jomart strich über seinen Schnurrbart. |53| «Ich habe noch nie ein so mageres Kind sechs Tage Fieber überleben sehen. Das müssen wir feiern: Also, suchen Sie uns etwas
     Schönes für diese abscheulichen Wände aus, ich spendiere es!»
    Madame Mousnier erschien an der Tür. «Docteur, der citoyen Croutignac möchte Sie sprechen.»
    Marie-Provence hob ruckartig den Kopf.
    Jomarts Gesicht verfinsterte sich. «Ich komme. Sie entschuldigen mich einen Augenblick?», fragte er.
    Marie-Provence hatte Mühe, die Lippen zu bewegen. «Natürlich.» Sie merkte, wie heiser ihre Stimme klang, und räusperte sich.
    Der Arzt verließ den Raum. Alsbald hörte Marie-Provence ihn im Nebenzimmer mit seinem Besucher diskutieren. Ihr Herz pochte
     heftig in der Brust. Croutignac! Sie konnte es kaum fassen. Er war im Nachbarraum. Mit einem Mal schien ihr Ziel zum Greifen
     nahe gerückt.
    Wie gerne sie das Gespräch belauscht hätte! Doch die Oberaufseherin Mousnier war geblieben. Und sie machte kein Anzeichen
     zu gehen. Innerlich Verwünschungen ausstoßend, machte Marie-Provence sich daran, die von Jomart mitgebrachten Krankenberichte
     alphabetisch zu ordnen.
    «Ich muss mit dir reden», sagte Madame Mousnier barsch. Sie trat näher, baute sich vor Marie-Provence auf. «Wer bist du eigentlich,
     und was willst du hier?»
    Marie-Provence starrte sie an und antwortete dann so kühl wie möglich: «Citoyenne Mousnier, deine Frage ist mehr als seltsam.
     Nach einer Woche dürfte dir sowohl mein Name wie auch meine Beschäftigung in der maison de la couche hinreichend bekannt sein.»
    «Ja, ich weiß, was du erzählt hast. Doch hat irgendjemand Papiere von dir gesehen?» Die Mousnier streckte eine Hand aus. «Zeig
     mal dein certificat de civisme her!»
    Marie-Provence fuhr die Alte in tiefster Entrüstung an: «Seit wann ist es üblich, dass eine Bürgerin die andere kontrolliert?
     Die Nation hat die alten Privilegien abgeschafft, |54| und heute hat auch eine einfache Frau aus dem Volk wie ich

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